Lux perpetua
erwiderte Reynevan, etwas vorschnell und auch nicht ganz ehrlich. »Ich habe aufgehört, Angst zu haben.«
»Oho!« Dem Priester war sein Unterton nicht entgangen. »Diesen Zustand kenne ich. Und zwar keineswegs aus der Lektüre der
Heiligen Schrift.«
»Ich habe die Worte deines Gebets nicht gehört«, setzte er hinzu. »Aber ich bin mir sicher, dass ich selbst schon einmal einähnliches Gebet gesprochen habe. So häufig und so oft, dass sich mir das Wort ›Litanei‹ aufdrängt.«
»Tatsächlich?«
»Leider«, bestätigte der Geistliche ihm ernst. »Ich weiß, wie schwer ein Verlust wiegt, ich weiß, wie sehr er einen niederdrücken
kann. So sehr, dass man nicht aufstehen und nicht den Kopf heben kann.
Praesens malum auget boni perditi memoriam
, die Erinnerung an das Glück vervielfacht nur das gegenwärtige Leid. Aber wir werden alle verwandelt. Beim Klang der letzten
Posaune, denn wenn die Posaune erschallt, werden die Toten auferstehen unverweslich und wir werden alle verwandelt werden.
Denn das, was verwest, muss anziehen die Unverweslichkeit, und das, was sterblich ist, muss anziehen die Unsterblichkeit.«
»Eschatologie. Was sonst noch?«
»Versöhnung mit Gott.«
»Buße?«
»Versöhnung. Denn Gott hat durch Christus die Welt mit sich versöhnt. Er rechnet den Menschen ihre Sünden nicht an, sondern
hat uns das Wort der Versöhnung übermittelt. Wenn also einer in Christus verharrt, ist er ein neues Wesen. Das, was früher
war, ist vergangen, alles ist neu geworden. Wer den rechten Weg wählt, wird die
lux vitae
haben, das Licht des Lebens.«
»Das Leben ist Finsternis.
In tenebris ambulavimus,
wir wandern im Dunkeln.«
»Wir werden verwandelt. Und es wird Licht. Willst du beichten?«
»Nein.«
Die Grenze zwischen den Herzogtümern sollten Pfähle, Steine, Erdhaufen oder andere Markierungen kenntlich machen. Reynevan
sah keine von ihnen. Trotzdem war leicht festzustellen, wo das Gebiet von Troppau endete, dessen Herzog mit den Hussiten ein
Abkommen getroffen hatte. Und wo das Gebiet des den Hussiten stets feindlich gesinnnten Ratiborbegann. Die Grenze bildeten glimmende Brandstätten. Ausgebrannte schwarze Überreste von Dörfern, die es einst gegeben hatte
und die nun nicht mehr waren.
Er ritt aus dem Wald heraus mitten durch eine weite Ebene, die ein einziges verlassenes Schlachtfeld war. Hunderte von Leichen,
sowohl Pferde- wie Menschenkadaver, bedeckten die Wiese, darüber lagerte der Gestank von Mist, Pulver, Blut und Übelkeit erregender
Fäulnis. Reynevan hatte genügend Schlachtfelder gesehen, er konnte ohne große Schwierigkeiten den Ablauf der Ereignisse nachvollziehen.
Vor zirka vier Tagen hatte die Ritterschaft von Ratibor, Jägerndorf und Pleß versucht, Tábor aufzuhalten, indem sie die Marschkolonne
an der Flanke angriffen. Die mit einer derartigen Taktik wohlvertrauten Hussiten hatten hinter den Pavesenträgern Deckung
gesucht, einen Schutzwall aus Wagen gebildet, die Angreifer mit einem Hagel von Kugeln und Bolzen auseinandergetrieben und
sie daraufhin selbst angegriffen, beide Flanken, die Ratiborer wie mit einer Eisenzange umklammernd. Anschließend hatten sie
sich über die hergemacht, die das Gemetzel überlebt hatten. Reynevan sah am Rande des Feldes einen ganzen Berg aus massakrierten
Körpern, er sah die Gehenkten an den Bäumen am Feldrain.
Leichenfledderer waren über das Schlachtfeld gezogen, Bauern aus der Umgebung, die, gebückt gehend und sich nervös bewegend,
an Tiere gemahnten. Oder an lichtscheue, leichenfressende Dämonen.
Reynevan trieb sein Pferd an. Er wollte noch vor der Dämmerung die Armee von Tábor erreichen.
Er hatte keine Angst, sich zu verirren. Der Rauch der vielen Brände wies ihm den Weg.
Die Begegnung mit den Befehlshabern des Kriegszuges erwies sich als schwierig. Reynevan hatte dies erwartet, denn in den vergangenen
Monaten war es ihm schon oft so ergangen. Er hatte mitleidvolle Blicke auf sich gezogen, Anteilnahme bekundendesKopfnicken. Er hatte Umarmungen erfahren, die Verbundenheit zum Ausdruck bringen sollten, und kameradschaftliches Schulterklopfen.
Er hatte sich Ermahnungen angehört, er möge sich aufrecht halten und tapfer sein. Sie bewirkten nur, dass er sofort zusammenklappte
und seine aufrechte Haltung aufgab, obwohl es kurz zuvor noch so ausgesehen hatte, als wäre alles wieder im Lot.
Jetzt war es nicht viel anders. Der Oberbefehlshaber des Feldzuges, Jakub Kroměšín,
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