Lux perpetua
schweigend.
»Wie«, fragte Reynevan plötzlich mit vollem Mund, »wie hast du
. . .
«
»Nachdem wir uns getrennt hatten, habe ich lange Zeit nicht gewusst, was mit dir geschehen ist. Von Tschenstochau hatte ich
natürlich gehört, alle hatten das. Aber woher sollte ich denn wissen, dass du dabei warst? Und dass sie dich eingelocht hatten?
Um nicht lange herumzureden, deine Freiheit verdankst du Rixa. Ihren Informationen und ihren Verbindungen.«
»Aber du hast doch
. . .
« Reynevan legte den Löffel weg. »Du hast mich doch aus Lelów herausgeholt.«
»Wofür hat man Freunde. Halt dich ein bisschen mit dem Essen zurück. Niemand wird dir dein Essen wegnehmen.«
Reynevan sah ihn an und blinzelte, die Augen tränten und waren eitrig. Seine Augäpfel waren gerötet und von einem dichten
Netz roter Äderchen bedeckt. Er litt sichtlich unter Lichtempfindlichkeit.
»Ich brauche einen Bader.« Reynevan schien Gedanken lesen zu können. »Oder eine Apotheke. Ein Medikament gegenBindehautentzündung. Augentrost, Aloe,
Foeniculum
oder
herba sancta . . .
Aber zuerst esse ich was, ich muss was essen. Und du erzähle.«
»Was?«
»Erzähle.« Reynevan griff über den Tisch nach der Wurst, die von den Osterschlemmereien übrig geblieben war. »Davon, was inzwischen
in der Welt passiert ist.«
»Vieles ist geschehen. Du hast genau drei Jahre gesessen, aber das ist so, als wären es dreißig gewesen. Wir leben in historisch
bedeutsamen Zeiten. Das erkennt man daran, dass sehr vieles sehr rasch geschieht. Du hast gesessen, und hier ist alles weitergegangen.
Sehr vieles und sehr schnell. Du hast zahllose historische Momente verpasst. Um das alles nachzuholen, um dir alles zu erklären,
bräuchte ich bis zum Morgen, aber dazu habe ich weder Zeit noch Lust.«
»Dann nimm dir Zeit und Lust. Bitte.«
»Wie du willst. Also, der Reihe nach: Papst Martin V. ist gestorben. Sie haben einen neuen Papst gewählt
. . .
«
»Gabriele Condulmer«, behauptete Reynevan. »Die himmlische Wölfin des Malachias. Und die Wahl war an
Oculi
, am vierten Sonntag vor Ostern. Man hat mir das alles irgendwann einmal geweissagt. Bis auf den Namen. Welchen hat er gewählt?«
»Eugen IV. Auf dem alten Marktplatz von Rouen haben die Engländer Jeanne d’Arc bei lebendigem Leibe verbrannt. In Basel hat das Konzil
begonnen. Ein fünfter Kreuzzug gegen die Hussiten hat stattgefunden und für das Heer des Deutschen Ordens bei Taus schmachvoll
geendet. Prokop hat das Herzogtum Oels in Flammen aufgehen lassen, dann ist er mit seinem Heer bis Bernau vorgedrungen, drei
Meilen vor Berlin. Herzog Bolko von Teschen ist gestorben. Konrad von Vechta ist gestorben, der Erzbischof von Prag. Bischof
Jan Szafraniec ist gestorben, der Bruder von Piotr Szafraniec. Friedrich von Aufseß ist gestorben, der Bischof von Bamberg
. . .
Wo gehst du hin?«
»Mich übergeben.«
»Dulce lumen«
, erklärte Reynevan plötzlich,
»et delectabile est oculis videre solem.«
»Hä?«
»Süß ist das Licht, und die Sonne zu sehen, den Augen lieb. Prediger Salomo.«
»Das heißt«, folgerte Scharley, »die Arznei hat dir ein bisschen geholfen?«
»Sie hat ein bisschen geholfen. Aber das ist es nicht allein. Das allein ist es ganz und gar nicht.«
Den Extrakt aus Dill, Verbenen, Rosen, Schöllkraut und Raute, ein unfehlbares Mittel gegen Augenentzündungen, hatten sie erst
in einer Apotheke in Siewierz gefunden. Vorher hatten sie weder eine Apotheke noch einen Bader ausfindig machen können. Reynevan
hatte das Medikament eingenommen, aber auf die Wirkung musste man noch ein wenig warten und die Einnahme in bestimmten Abständen
wiederholen. Nachdem er sich im »Ganter« überfressen hatte, wollte der ehemalige Häftling keine Schenke mehr betreten, er
beklagte sich über den Mief. Daher machten sie an der frischen Luft Rast. In der Nähe von Siewierz, in einem Birkenwäldchen
am Wege. Reynevan benetzte seine Augen mit einer Flüssigkeit und murmelte dabei mehrmals magische Formeln, weil dann, wie
die Aufschrift auf dem Flakon verkündete, »die Kraft der Arznei, mit übernatürlichen Kräften gefertigt, bei der Heilung wirksamer«
sei.
Foeniculum, verbena , rosa , chelidonia , ruta
lumina reddit acuta.
»Erzähl weiter, Scharley«, Reynevan legte Kompressen auf seine Lider, »du hast damit aufgehört, dass ein paar Bischöfe gestorben
sind. Wer ist sonst noch gestorben, während ich gesessen habe? Von Leuten, die mich mehr
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