Lux perpetua
der Lage, die Waffe hervorzuholen. Sie selbst raffte
einen Stein an sich, wild entschlossen, ihr Leben oder was auch immer, teuer zu verkaufen. Aber der Tag war, wie sich herausstellte,
ein Tag voller Überraschungen. Auf dem zum Gipfel des Geiersberges führenden verschlungenen, steilen und steinigen Pfad kam
ein weiteres Mädchen gegangen.
Und blieb wie angewurzelt stehen, als es die beiden anderen sah.
Ihrem Aussehen nach war sie die jüngste. Ihr Gesicht, ihre Gesichtszüge, die Farbe des Haares, die Augen, all das erinnerte
Elencia an etwas und erzeugte ein Gefühl der Unruhe in ihr. Ein unklares und unerklärliches Gefühl, und daher umso beunruhigender.
»Na, na
. . .
« Die Sommersprossige hatte sofort ihre Fassung wiedergefunden. »Wo treibst du dich denn herum, du Rotznase? Und dazu noch
ganz allein? Weißt du nicht, dass es hier gefährlich werden kann?«
Elencia unterdrückte mühsam ein Lachen. Wenn die Neuangekommene jünger war als die mit den Sommersprossen, dann bestimmt nicht
viel. Mit Sicherheit aber war sie größer. In ihrem Gesicht gab es auch keine Spuren von Angst oder Betroffenheit. Ihr Gesicht,
dachte Elencia, verwundert über diesen Gedanken, ist älter als sie selbst.
»Ich gehe jede Wette ein«, sagte sie, »dass wir alle aus demselben Grund hier sind. Und da sich unser Ziel auf dem Gipfel
befindet, sollten wir uns beeilen. Sonst schaffen wir es nicht, vor der Dämmerung zurückzukehren. Los weiter, Mädchen, mir
nach.«
Die Sommersprossige machte ein Gesicht, als wollte sie aufbrausen. Aber was half’s, jede Gruppe brauchte ihren Führer. Und
Elencia war die größte. Und vielleicht auch die älteste.
»Ich heiße Of
. . .
Euphemia von Baruth«, sagte die Sommersprossige stolz. »Ich bin die Tochter des Ritters Heinrich von Baruth von Schönbrunn.
Mit wem habe ich die Ehre?«
»Elencia
. . .
de Wirsing.«
Die Neuangekommene senkte den Blick, als die beiden anderen sie anschauten. Sie antwortete lange nicht.
»Ihr könnt mich Elektra nennen«, sagte sie schließlich leise.
Den lang gezogenen Gipfel des Geiersberges krönte ein steinerner Wall, in seiner Mitte lag ein großer Felsbrocken, ein an
einen Katafalk erinnernder Monolith. Keines der drei Mädchen konnte dies wissen, aber der Monolith hatte schon dort oben gelegen,
als Mammute durch das Sudetenvorland stampften und Riesenschildkröten ihre Eier auf der Sandinsel in der Oder ablegten, die
heute ein Teil des dicht besiedelten und eng bebauten Breslau ist.
Zu Füßen des Monolithen brannte ein Feuer, die Flammen leckten den Boden eines rußigen und sein Gebräu verspritzenden Kessels.
Unweit davon, auf einem Stoß von Totenschädeln, lag eine schwarze Katze. In typischer katzenhaft trägerPose. Sie war damit beschäftigt, ihr Fell zu lecken. Es war das behäbigste Lecken, das Elencia je gesehen hatte.
Um das Feuer herum saßen drei Weiber. Die eine, ein ganz altes Weib, bucklig und gebeugt, wiegte sich hin und her, brabbelte,
summte etwas und verzog das dunkle Gesicht. Die am weitesten entfernt saß, schien gerade mal dem Kindesalter entwachsen. In
dem bleichen, hässlichen Fuchsgesicht des jungen Mädchens brannten zwei fiebrige Augen. Die zottligen Haare wurden von einem
Kranz aus Verbenen und Kleeblumen zusammengehalten.
Den Platz in der Mitte nahm die wichtigste ein. Die
bona femina.
Die, zu der alle drei Mädchen gekommen waren. Hochgewachsen, stämmig, mit einem spitzen Hut aus schwarzem Filz geschmückt,
unter dem in üppigen Wellen flammendrotes Haar hervorquoll. Den Hals der Hexe umschlang ein Schal aus grüner Wolle.
»Mir juckt der Finger«, brabbelte die dunkelgesichtige Alte. »Mir juckt der Finger, das heißt
. . .
«
»Halt die Schnauze, Jagna«, befahl die Rothaarige mit dem Hut, sie zum Schweigen bringend, dann hob sie den Bittstellerinnen
die Augen entgegen, so hell wie geschmolzenes Zinn. »Grüß euch, Mädchen. Was führt euch her? Sagt nichts, ich errate es schon
selbst. Eine ungewollte Schwangerschaft? Nein, eher nicht. Krank seht ihr mir auch nicht aus, im Gegenteil, ich würde sagen,
ihr wirkt alle drei außerordentlich gesund. Also ist es die Liebe! Wir lieben, und das Objekt unserer Liebe ist weit fort
und unerreichbar, immer weiter weg und immer unerreichbarer. Habe ich richtig geraten?«
Die sommersprossige Euphemia von Baruth war die Erste, die sich entschloss, eifrig und energisch mit dem Kopf zu nicken. Als
Erste und Einzige. Elencia
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