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Lux perpetua

Titel: Lux perpetua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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seufzte plötzlich laut und grub ihre Fingernägel in Parzivals Schulter.
    »Was ist los? Ofka?«
    »Ich hab’ sie gesehen
. . .
« Ofka musste schlucken. »Mir schien so, als hätte ich
. . .
eine Bekannte gesehen
. . .
«
    »Eine Bekannte? Wen? Soll ich umdrehen?«
    Ofka musste wieder schlucken, aber sie schüttelte verneinend den Kopf und errötete, ohne es zu wollen. Besser nicht, dachte
     sie. Besser nicht zu Dingen von früher zurückkehren, besser wird sein, sie auszulöschen und aus dem Gedächtnis zutilgen. Jenen Nachmittag auf dem Gipfel des Geiersberges. Besser, wenn der Geliebte nicht wusste, dass es durch weiße Magie
     geschehen war, dass Magie sie verbunden, dass Zauber die Hindernisse überwunden und bewirkt hatte, dass sie heute zusammen
     waren, heute und für immer. Denn was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen.
    Ich bin neugierig, dachte sie plötzlich, ob es ihnen auch gelungen ist, ob sich die Magie für die beiden ebenso vorteilhaft
     ausgewirkt hat. Für Elencia
. . .
Und für Elektra. Elektra, deren Gesicht ich für einen Moment in der Menge gesehen habe.
    »Wir kannten uns kaum«, erklärte sie mit gespielter Gleichgültigkeit. »Sie hieß Elektra.«
    »Ich wundere mich über die Eltern«, meinte Parzival, »die ihrem Kind einen solchen Namen geben. Vielleicht nennst du es Aberglauben,
     aber ich hätte Angst, dass sich ein solcher Name als prophetisch erweisen und das Schicksal des Kindes beeinflussen könnte.«
    »Das heißt?«
    »Elektra war eine Tochter Agamemnons, des Königs von Mykene. Sie liebte ihren Vater sehr, und als dieser ermordet wurde, tobte
     sie vor Hass und dürstete nach Rache. Sie rächte sich, aber sie verlor den Verstand. Ich würde meiner Tochter keinen solchen
     Namen geben.«
    »Ich auch nicht.« Ofka schmiegte sich an ihren Verlobten. »Unsere Tochter taufen wir Beata.«
     
    Die Glocken von St. Maria auf dem Sande verkündeten die Sexta. Reynevan drängte sich durch die Menge und barg dabei schützend
     den unter seinem Hemd versteckten Flakon mit der Giftmischung. Er war entschlossen. Er hielt nach einer Gelegenheit Ausschau.
     Seit langem hielt er nach einer Gelegenheit Ausschau.
     
    Bewacht von Kutscher von Hunt und seinen Leuten, schritt der Mauerläufer auf der Sandbrücke dahin und grüßte mit der Hand
     winkend die Breslauer, die zu ihm herandrängten. Seinen Umhang schmückte eine dicke, goldene Kette, ein Symbol der Macht.
     Der Mauerläufer besaß Macht. Bischof Konrad hatte ihm die Statthalterschaft über ganz Schlesien abgetreten und ihn zum Oberlandeshauptmann
     ernannt, zum Verwalter, Starosten und Alleinherrscher über Breslau und ihn damit höher gestellt als die Ratsherren und die
     Schöffen. So war Birkhart von Grellenort zum mächtigsten Mann Schlesiens nach dem Bischof geworden. Er war es unter allgemeinem
     Beifall und zur Freude aller geworden. Denn der verbissene Kampf mit den Hussiten dauerte immer noch an. Immer noch waren
     Nimptsch und Ottmachau in hussitischer Hand, immer noch bedrohten hussitische Banden, Banden aus Marodeuren und mit ihnen
     verbündeten Raubrittern, Schlesien. Das Volk wollte eine entschlossene und mächtige Herrschaft, die Konzentration der Macht
     in einer Hand. Man wollte einen vorausblickenden Mann, einen Anführer und Beschützer. Die Breslauer vertrauten auf ihren Beschützer,
     sie glaubten, dass er sie schützen und verteidigen, sie aus dem Ruin herausführen, sie reich und glücklich machen würde. Sie
     glaubten an ihn und blickten auf ihn wie auf den Regenbogen oder auf eine Ikone.
    »Unser Erlöser!«
    »Unsere Zuflucht!«
    »Unser Wohltäter!«
    Vor die Füße des Mauerläufers wurden Blumen gestreut. Mütter streckten ihm ihre Kinder entgegen, damit er sie segnete. Handwerksgesellen
     knieten vor ihm nieder. Die Armen warfen sich ihm zu Füßen, wo sie rasch und wirkungsvoll von Hunts Leuten mit Fußtritten
     weggescheucht wurden.
    »Unter deinen Schutz!«
    »Sei unsere Rettung!«
    »Führer, führe uns!«
    Hinter dem Mauerläufer einher trippelte Pater Felician, vormalsHans Gwisdek, genannt die Laus, nunmehr Hans von Gwisdendorff, der für seine Treue und Verdienste vom Bischof das Amt eines
     Kanonikus am Kollegiat zum Heiligen Kreuz und die damit verbundene Präbende erhalten hatte. Kanonikus von Gwisdendorff lächelte
     der Menge zu, segnete sie und träumte vor sich hin. Davon, dass es nicht lange dauern würde und er vorne und der Mauerläufer
     hinter ihm laufen würde.

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