Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lux perpetua

Titel: Lux perpetua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Kutscher von Hunt lächelte ebenfalls mit zusammengebissenen Zähnen und verscheuchte die lästigen
     Individuen.
    »Wir werden alles erwägen«, versprach der Mauerläufer lächelnd und schob die Petitionen und Bittbriefe beiseite, die man ihm
     entgegenstreckte. »Alles wird genauestens geprüft
. . .
Die Schuldigen werden bestraft! Hier herrscht das Gesetz! Und die Gerechtigkeit!«
    »Fort«, zischte Kutscher den Bittstellern zu. »Fort, oder ich trete euch
. . .
«
    »Für Breslau wird ein Goldenes Zeitalter anbrechen
. . .
« Der Mauerläufer strich einem der vielen kleinen Mädchen, die ihm einen Blumenstrauß entgegenhielten, über den Kopf. »Ein
     Goldenes Zeitalter! Nach unserem Sieg über die Feinde!«
    »Aber der Kampf ist noch nicht zu Ende!«, verkündete er laut. »Das Natterngezücht ist noch nicht erschlagen! Ihr müsst zu
     Opfern und Entbehrungen bereit sein
. . .
«
    Er verstummte, als er sah, dass ein Mädchen mit hellblonden Haaren vor ihm stand. Ihr Gesicht erinnerte den Mauerläufer an
     jemanden. Beunruhigend. Ihr Gesicht, dachte er, ist älter als sie selbst.
    Er streckte seine Hand aus, um sie zu segnen. Aber irgendetwas veranlasste ihn, sie schnell wieder zurückziehen.
    »Kenne ich dich nicht?«
    »Ich bin Sybille von Bielau«, sagte das Mädchen mit lauter Stimme. »Die Tochter Peters, genannt Peterlin. Stirb, du Mörder!«
    Dann ging alles ganz schnell. So schnell, dass Kutscher von Hunt zu spät reagierte. Er schaffte es weder, den Mauerläuferwegzudrängen, noch, das Mädchen zu entwaffnen. Dieses hatte unter ihrem Mantel eine kurze Prager »Verräterbüchse« hervorgezogen
     und schoss aus der Entfernung von einem halben Schritt dem Mauerläufer direkt in die Brust.
    Dichter Rauch umhüllte alles, in dem das Mädchen wie ein Geist verschwand. Wie eine Erscheinung. Wie ein Traumbild. Die Menge
     zerteilte sich schreiend, lief auseinander und zerstreute sich so, dass Reynevan sehen konnte.
    Er sah, wie der angeschossene Mauerläufer wankte, aber nicht fiel. Wie er auf seine rußgeschwärzte, blutgetränkte Brust blickte
     und auf die Kugel, die sich an einem Glied seiner goldenen Kette verfangen hatte. Wie er wild auflachte.
    »Fasst sie
. . .
«, stöhnte er und rang nach Atem. »Fasst sie
. . .
Ich schneide der Hündin die Haut in einzelnen Streifen vom Leib
. . .
«
    »Ihr seid verwundet!«
    »Das ist nichts
. . .
Mir fehlt nichts
. . .
Da braucht es schon ein bisschen mehr, wenn man mir schaden will
. . .
Eine gewöhnliche Kugel ist zu weni
. . .
«
    Er verstummte, verschluckte sich und die Augen traten ihm aus den Höhlen. Während er heftig hustete, quoll schwarzes Blut
     aus seinem Mund. Er brüllte, schrie, krächzte. Er begriff. Auch Kutscher begriff. Der sich am Boden zusammenkauernde Kanonikus
     begriff. Der zusehende Reynevan begriff.
    Das war keine gewöhnliche Kugel gewesen.
    Der Mauerläufer schrie. Dann krächzte er, und noch bevor sein Gekrächz verklungen war, hatte er sich vor aller Augen in einen
     schwarzen Vogel verwandelt. Der Vogel schlug schwer mit den Flügeln, erhob sich und flog, Blutstropfen versprühend, über die
     Oder zur Dominsel. Er flog nicht weit. Alle sahen, wie sich der Vogel unter groteskem Pfeifen und Krächzen in einen riesigen,
     unförmigen, bluttriefenden Vogelmenschen verwandelte, der mit den Beinen zappelte und mit den Flügeln schlug. Die Metamorphose
     vollzog sich vor den Augen aller, und was ins graue Wasser der Oder stürzte, war das Ungeheuerin menschlicher Gestalt. Ein sterbender Mensch mit einer goldenen Kette auf der Brust.
    Das Wasser schloss sich über seinem Leichnam. Zurück blieb nur blutiger Schaum, den die Strömung auseinandertrieb.
     
    Der Leichnam des Mauerläufers wurde vom Eisbrecher an der Langen Brücke aufgefangen, wo er sich inmitten angeschwemmter Zweige
     verfing. Er trieb an der Wasseroberfläche, mit dem Gesicht nach unten, und schaukelte etwa eine gute Stunde in der Strömung.
     Schließlich trieb er weiter. Das Wasser trug ihn an den Mühlen vorbei in sandiges Flachwasser, wo er mehrmals in den Untiefen
     hängen blieb. Dann erfasste ihn eine stärkere Strömung und schickte ihn wieder zum linken Ufer, zur Gerbergasse hin, in die
     stinkenden Abwässer der Lederwerkstätten. Er drehte sich in den Strudeln und trieb bis zum Wehr von Sokolnice. Das Wasser
     trug ihn über den Damm des Wehres.
    In der Tiefe hinter der Insel zog die sich in den Strudeln drehende Wasserleiche die Aufmerksamkeit eines riesigen

Weitere Kostenlose Bücher