Lux perpetua
Wyszek Raczyński und seine Gefährten wurden gefangen genommen und in
die Hauptstadt geführt. Dort wurden alle auf Befehl Kaiser Sigismunds schrecklich gequält und lange gefoltert und gemartert
und am Ende am großen Galgen aufgehängt. Dies geschah an einem Montag, am Tag nach
navitatis beatae Mariae virginis,
Anno Domini 1437.
Und war ein großes Weinen im Volke. Die Leute weinten jedes Mal, wenn dies erwähnt wurde.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
in dem alles zu einem Ende kommt.
»Mein Auge ist trübe geworden vor Gram.« Mit diesem traurigen Bibelzitat beklagte sich Jan Bezdĕchovský von Bezděchov, der
älteste, erfahrenste und von allen am meisten geschätzte Magier der Alchemistenvereinigung der Apotheke »Zum Erzengel«.
»Mein Auge ist trübe geworden, die Kraft lässt nach und die Eingeweide auch«, fügte er hinzu, während er eine Flüssigkeit
aus einer Karaffe in die Becher goss. »Der Kummer nagt an meinem Leben und das Seufzen an meinen Jahren. Der Leidensdruck
hat mir die Kraft geraubt, und meine Knochen sind brüchig geworden. Mit anderen Worten, Reinmar, das Alter, soll’s doch gleich
die Seuche holen, ist kein Vergnügen. Aber genug von mir, genug. Erzähle, wie es dir geht. Es heißt, dein Mädchen sei
. . .
Ist das wahr?«
»Es ist wahr.«
»Und unser Freund Samson?«
»Das ist auch wahr.«
»Leid, Leid.« Der
reverendissimus doctor
hob den Becher und nahm einen tiefen Schluck. »Großes Leid. Und du warst bei Lipany, sagen sie
. . .
Angeblich haben sie dort Hunderte von Menschen in Scheunen bei lebendigem Leibe verbrannt. Horror, Horror. Und was nun, sprich!?
Was soll dieses Dasein?«
»Das ist das Ende einer geschichtlichen Epoche. In Böhmen brodelt es wie in einem Kessel
. . .
«
»Und der Abschaum steigt aus der Tiefe empor«, erriet Bezdĕchovský. »Wie immer ganz nach oben. Und du? Wirst du weiterkämpfen?«
»Nein. Ich habe eine Niederlage erlitten. In allem. Ich habe genug.«
»In interessanten Zeiten zu leben, ist uns bestimmt«, seufzte der Greis. »In interessanten. Und komischen, und traurigen
. . .
Zum Glück habe ich nicht mehr lange zu leben
. . .
«
»Was sagt Ihr denn da, Meister
. . .
«
»Nicht mehr lange, nicht mehr lange. Das Einzige, was mich noch am Leben erhält, ist der Alkohol. Alkoholische Getränke.«
»Branntwein«, Bezdĕchovskýhob den Becher, »ist ein wahrer Äther, der aus dem Organismus unreine Substanzen entfernt und dem
verdickten, geronnenen und trägen Blut den Fluss und die Lebendigkeit zurückgibt. Im Branntwein ist wie in einer Quintessenz
ein Extrakt höchster Harmonie enthalten. Wodka wirkt so, wie er heißt: Er ist das Wasser des Lebens,
aqua vitae,
eine lebenspendende Flüssigkeit, die unsere Tage verlängern kann, ja, sie kann sogar den Tod abschrecken und das Sterben hinauszögern
. . .
Ach, was rede ich hier! Lass uns trinken!«
»Meister.«
»Ich höre, mein Sohn.«
»Ich werde nicht lange in Prag bleiben, ich kehre nach Schlesien zurück. Ich habe dort noch
. . .
ganz bestimmte Rechnungen zu begleichen. Ich habe Euch aufgesucht, weil
. . .
Ich habe eine Bitte. So ausgefallen, dass ich es nicht wage, damit zu Telesma oder zu Edlinger Brehm zu gehen
. . .
Ich kann sie nur Euch gegenüber äußern. In der Hoffnung, dass Ihr mich versteht
. . .
«
»Sprich frei heraus. Was brauchst du?«
»Gift.«
»Ich habe alles, worum du gebeten hast, Meister Jan.« Der Bibliothekar Stephan von Drahotuše blickte misstrauisch auf Bezdĕchovský
und Reynevan herab und warf einen Armvoll Bücher auf den Tisch.
»›Turba philosophorum‹, also das übersetzte ›Mushaf a-gama’a‹. Der ›Kitāb Sirr al-Asrar‹ oder ›Secretum secretorum‹ im Original,
wenn ihr Schwierigkeiten mit dem Arabischen habt, dann bittet Teggendorf um Hilfe. Die ›Epistola de dosibus tyriacalibus‹
von Arnold de Villanova. Und ein ganz seltenes Werk: ›Quaestiones de theriaca‹ von Guillelmus Brixiensis. Ich bin neugierig,
wozu ihr diese beiden letzten Werke braucht. Wollt ihr vielleicht jemanden vergiften, oder was?«
»Hier also hast du dein Gift, Reinmar.« Jan Bezdĕchovskývon Bezděchov hob den Flakon mit der grünlichen, opalisierenden Flüssigkeit
hoch.
Reynevan schwieg, er war blass geworden. Bezdĕchovský stellte den Flakon hin und kratzte sich an seiner blaurötlich gefärbten
Nase.
»Dein Objekt«, erklärte er ihm, »nimmt ständig flüssiges Gold, also
aurum potabile
, zu sich, wie du behauptest.
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