Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lux perpetua

Titel: Lux perpetua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Mit einer ungeduldigen
     Handbewegung gab sie zu erkennen, dass es genug sei. Sie ergriff den Kelch, dann zögerte sie.
    »Du
. . .
trinkst nicht?«
    »Nein, Kundrie, danke.« Er wollte sie nicht verärgern, er wusste, wie sehr sie vom
aurum potabile
abhängig war und wie sehr sie jeden einzelnen Tropfen genoss. »Das ist alles für dich.«
    »Vielen Dank, mein Söhnchen, vielen Dank.« Die Neuphra bezwang das Zittern ihrer Hände und nahm einen Schluck; ihre bernsteinfarbenen
     Augen wurden sofort klarer. »Nun, dann lass uns zur Sache kommen. Sag, was bedrückt dich?«
    Der Mauerläufer seufzte. Oder tat wenigstens so, als seufze er.
    Seine Mutter hatte er nie kennengelernt. Sie war im Kloster der Magdalenerinnen in Lauban bei seiner Geburt gestorben. Aufgezogen
     worden war er nacheinander im Waisenhaus, in der Pfarrschule und in Breslaus Straßen. Und schließlich von Kundrie. Der Neuphra.
     Der Elementarhexe. Einer von Longaevi, von den Ewigen.
    Ihr richtiges Alter hatte Kundrie dem Mauerläufer nie verraten, man wusste nur, dass sie seit etwa zweihundert Jahren in Breslau
     lebte, denn sie hatte die Erstürmung der Stadt durch die Mongolen noch miterlebt. Der Mauerläufer war ihr begegnet, als er
     sieben Jahre alt war. Dieses Zusammentreffen würde er nie vergessen. Es geschah auf dem Fischmarkt, auf dem sich der Mauerläufer
     herumtrieb, um etwas zu stehlen und eineKatze zu fangen, die er zu Tode quälen wollte. Kundrie hatte sich, um unter Menschen leben zu können, hinter einem überaus
     wirksamen Illusionszauber verborgen. Der Mauerläufer, der seit seiner frühesten Kindheit Talent zur Magie und übersinnliche
     Kräfte aufwies, hatte die Illusionsoberfläche durchdrungen und die Neuphra in ihrer wahren Gestalt erfasst. Von ihrem Anblick
     bekam er einen Schock, und Panik ergriff ihn. Ja nun, etwas, das aussah wie die Kreuzung zwischen einer knorrigen Weide und
     einer zweibeinigen Echse und, stinkende Klümpchen verstreuend, einfach so über den Fischmarkt schlurfte, überforderte einen
     Siebenjährigen. Sogar einen Siebenjährigen wie den Mauerläufer.
    Die Macht dieses ersten Eindrucks hatte Einfluss auf das Ausmaß und den Verlauf ihrer weiteren Freundschaft. Die Neuphra,
     ein blutrünstiges und unvorstellbar grausames Wesen, war von der Grausamkeit des Jungen fasziniert. Und von seinen magischen
     Fähigkeiten. Sie förderte sie nach Kräften, um sie zu stärken, und ihre Herkunft, die auf die Uranfänge des Wissens zurückging,
     verlieh ihr die Möglichkeiten dazu. Der Mauerläufer war ein gelehriger Schüler. Mit acht Jahren war er bereits ein Psioniker,
     der die einfache Magie und Telepathie geschickt beherrschte, Zauber warf, Lebensmittel verdarb und Krankheiten heraufbeschwor.
     Als er das zehnte Lebensjahr vollendet hatte, beherrschte er bereits gewandt die höhere Magie und die ›Goetia‹, mit deren
     Hilfe er zu töten lernte. Mit zwölf war er schon ein so versierter Magier, dass er nach Aguilar bei Córdoba reisen konnte,
     um dort die Schule der Alumbrados zu besuchen. Er reiste mit dem Geld Konrads von Oels dorthin, seinerzeit Geistlicher in
     Breslau. Diesem Herzog und Priester war der Mauerläufer plötzlich wieder eingefallen. Aus Gründen, die dem Mauerläufer nicht
     bekannt waren. Aber er dachte sich sein Teil.
    1414 war er dann nach Breslau zurückgekehrt. Als Theurg und Nekromant wurde er sogleich ein Vertrauter Konrads, der jetzt
     bereits Präpositus des Domkapitels war und gute Aussichtenhatte, die Mitra zu erlangen. Die ihm denn auch 1418 aufgesetzt wurde. Und Konrad hob außer sich selbst auch seinen persönlichen
     Magier auf den Gipfel der Macht. Kundrie, die Neuphra, die Ziehmutter, wurde zur Vertrauten ihres gelehrigen Schülers. Seine
     Beraterin. Der Mauerläufer war – trotz aller Bemühungen – immer noch ein Mensch, dazu ein sehr junger. Und ein äußerst arroganter.
     Talent hin, Talent her, Ehrgeiz hin, Ehrgeiz her, die große Arkana der Longaevi war für ihn noch immer unerreichbar, und zu
     einem echten Nephandi fehlte ihm immer noch viel. Kundrie, die erdverbundene Elementarhexe, konnte die magischen Kräfte der
     Longaevi und Nephandi empfangen und umsetzen. Zum Nutzen des Mauerläufers. Und wenn der Mauerläufer die Kräfte nicht einsetzen
     konnte, tat sie es für ihn. Wenn er sie darum bat. Das heißt, wenn er seinen Stolz hinunterschluckte. Das kostete ihn nicht
     wenig Überwindung, daher wandte er sich auch selten mit der Bitte um Hilfe an sie.

Weitere Kostenlose Bücher