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Lycana

Lycana

Titel: Lycana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Stück vom Dorf entfernten, mit einer Mauer umschlossenen Friedhof führte. Von der kleinen Kirche standen, wie bei so vielen im Westen Irlands, nur noch die Umfassungsmauern. Der Dachstuhl war irgendwann eingebrochen. Nach und nach hatten sich die Dorfbewohner die geborstenen Dachbalken als Brenn- oder Baumaterial geholt, denn Holz war in den Mooren ein knappes Gut. Und auch die Ziegel und Steine, die heruntergebrochen waren, konnte man gut gebrauchen. Die noch stehenden Mauern zu schleifen, kam den Menschen allerdings nicht in den Sinn. Sie gehörten immerhin zu einem Gotteshaus und waren gesegnet. Sie versprachen noch immer einen ganz besonderen göttlichen Schutz und so waren Begräbnisplätze innerhalb der Mauerreste von Kirchen oder Klöstern sehr begehrt.
    Bram passierte das nur angelehnte Gittertor und ging zu der Ruine der Friedhofskirche hinüber. Dicht an dicht reihten sich am Boden die Grabplatten. Er bückte sich, doch das Sternenlicht war  zu schwach, um die Inschriften zu entziffern. Auf manchen lagen vertrocknete Blumen.
    Ein schabendes Geräusch ließ ihn herumfahren. Was war das? Bram lauschte. Es kam von jenseits der Kirchenmauern. Leise trat er an eine der Fensteröffnungen und spähte hinaus. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Zwei Schatten machten sich an den Gräbern zu schaffen. Erde wurde angehäuft, dann zog einer von ihnen - eine zierliche Gestalt - einen Sarg aufs Gras hinaus. Bram schüttelte ungläubig den Kopf. Sie sah aus wie eine Frau. Wie konnte sie solche Körperkräfte besitzen? Wie erstarrt stand er da und konnte den Blick nicht abwenden, obwohl sein Körper ihn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln warnte. Sein Rücken prickelte, seine Nackenhaare stellten sich auf. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. All seine Sinne schrien: Gefahr! Lauf um dein Leben! Aber Bram Stoker rührte sich nicht vom Fleck.
    Die Frauengestalt öffnete den Sarg, nahm die Leiche, die größer als sie selbst sein musste, heraus und warf sie in das offene Grab zurück. Mit Bewegungen, so schnell, dass Bram ihnen mit den Augen kaum folgen konnte, verschloss sie das Grab wieder und wandte sich dann einem anderen zu. Ihr Begleiter folgte ihrem Beispiel. Die Frage, warum sie das taten, wurde mit einem Mal unwichtig, als sich ihm die ungeheuerliche Erkenntnis aufdrängte: Das konnten keine Menschen sein! Sie waren zu schnell und zu stark. Ob sie einen Schatten warfen, konnte Bram nicht erkennen. Das Sternenlicht war zu schwach. Sein Unterbewusstsein hatte die Wesen längst erkannt, aber sein Verstand weigerte sich, es einzugestehen. Hatte er nicht immer gehofft, sie einmal zu Gesicht zu bekommen? Gehofft und gefürchtet! Sein Geist formte das Wort: Vampire! Sein Atem wurde flach und klang dennoch unnatürlich laut in seinen Ohren. Warum hatten sie ihn noch nicht entdeckt? Waren die Geschichten über ihre Kräfte übertrieben? Oder lenkten ihre Arbeit und der intensive Leichengeruch, der nun zu ihm herüberwehte, sie ab?
    Zunehmend fasziniert beobachtete Bram die beiden Geschöpfe, wie sie immer mehr Särge ausgruben und über die Mauer der Einfriedung auf einen Wagen hoben. Zwei kräftige schwarze Pferde waren ihm vorgespannt. Sie standen so reglos da, dass sich Bram fragte, ob dies gewöhnliche Tiere waren. Ihr Fell schimmerte im Sternenglanz. Bram sah wieder zu den beiden Vampiren hin. Die Angst, die ihn noch vor wenigen Augenblicken zur Flucht gedrängt hatte, wurde träge und schläfrig. Wie anmutig sie sich bewegten! In seinem Kopf begann es zu rauschen. Jetzt erst bemerkte Bram, dass die Vampirin ihre Arbeit beendet hatte. Sie stand reglos vor der Mauer und starrte zu ihm hinüber. Sie sah in seine Augen, in seinen Geist, durch ihn hindurch. Er hätte eigentlich erschrecken müssen. Sich zu Tode ängstigen oder panisch die Flucht ergreifen, stattdessen rührte er sich nicht von der Stelle und erwiderte den Blick. Das Rauschen in seinem Kopf schied sich zu Tönen, die eine Melodie woben. Sie zog ihn an, rief nach ihm. Wie die Sirenen, die Odysseus ins Verderben locken wollten. Bram hatte keinen Schiffsmast, an den er sich hätte binden lassen können. Er fühlte, wie sich sein Körper zu bewegen begann, und er wusste, dass nicht er selbst es war, der ihn kontrollierte.
    Oscar, du hattest unrecht, dachte er. Wirst du deine Meinung nun ändern, oder wirst du glauben, ein Landstreicher hätte mich niedergestreckt?
    Plötzlich ließ das fremde Ziehen nach. Er sah, dass

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