Lycana
mit denen er Franz Leopold bei jeder Aufgabe bedachte.
Wo Ivy wohl hingegangen war? Warum benahm sie sich so seltsam? Es ärgerte ihn, dass es ihm nicht gelang, in ihrem Gemüt zu lesen. Alisa war ihm ein offenes Buch, aber Ivy? Sie war und blieb ein Geheimnis, das ihn mit jeder Nacht stärker anzog.
Franz Leopold beschloss, sich in der Umgebung ein wenig umzusehen. Hatte er vom Turm aus nicht ein Stück weiter einen kleinen Friedhof ausgemacht? Ihm fiel auf, dass er schon viel zu lange nicht mehr alleine durch die Nacht gestreift war. Zu Hause liebte er es, seinen Gedanken nachzuhängen. Die Gedanken, die immer mehr von einer zierlichen Gestalt mit silbern schimmerndem Haar erfüllt wurden.
»Sieh, dort ist wieder einer, und er läuft völlig ungeschützt herum. Wie wenn es auf dieser Erde keine Gefahr für ihn gäbe.« Danilo grinste böse. »Worauf warten wir noch? Los, schnappen wir ihn uns!«
Er wollte ihren Beobachtungsposten - eine Ruine in der Nähe der Burgmauern - schon verlassen, als Tonka ihn am Arm packte.
»Nein! Lass ihn gehen.«
»Warum? Sind wir nicht deshalb den weiten Weg über das Meer hergekommen, oder bekommst du es nun, da es ernst wird, mit der Angst zu tun? Wenn du dich nicht traust, kann ich es auch alleine machen!«
»Sei still!«, herrschte sie ihn an. »Sind wir gekommen, um uns dieses eine Bürschchen zu greifen?«
»Nein, natürlich nicht, und das weißt du auch!«, zischte er.
»Was glaubst du, würde passieren, wenn wir ihn ergreifen und er verschwindet oder seine Leiche wird hier gefunden?«
Danilo hob die Schultern. »Was sollte schon passieren? Bis dahin haben wir uns längst in Sicherheit gebracht, und ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu lamentieren …«
»… und die anderen Erben streng zu bewachen oder von hier fortzuschaffen - vielleicht sogar zurück zu ihren Familien!«
Danilo wiegte den Kopf hin und her. »Ja, das könnte geschehen«, gab er widerstrebend zu.
»Damit wäre uns nicht geholfen. Jetzt haben wir die Chance, sie alle zusammen zu erwischen, und die sollten wir nicht leichtfertig verspielen. Was macht es, wenn wir ein paar Nächte länger warten? Sie scheinen sich in Sicherheit zu wiegen. Die meisten ihrer Beschützer haben die Burg verlassen. Es läuft prächtig. Bald schon werden wir zugreifen und dann haben wir alle auf einen Schlag!«
»Wie willst du das anstellen? Gut, wir haben vier Klingen und sind gute Fechter und das sind nur Kinder, aber nicht zu wenige. Außerdem vermute ich, sie werden sie auch in Zukunft nicht ganz unbeaufsichtigt zurücklassen.«
Tonka entblößte ihre Zähne zu einem grausamen Lächeln. »Ich habe da so einen Einfall. Wir werden uns die zerstörerischen Erfindungen der Menschen zunutze machen. Komm mit, ich werde dir etwas zeigen.«
Sie wies die beiden Servienten an, weiter zu wachen, dann verwandelten sich die Geschwister in Fledermäuse und flatterten davon. Tonka führte Danilo nach Norden, über das Dorf Oughterard hinweg. Ein Stück abseits des Weges unterhalb einer Schutthalde aus scharfkantigen Gesteinsbrocken landete sie und nahm ihre menschliche Gestalt wieder an. Danilo folgte ihrem Beispiel.
»Was wollen wir denn hier?«, fragte er und sah sich erstaunt um. »Was sind denn das für seltsame Geräte?«
»Damit holen sie mit der Kraft ihrer Pferde die Körbe mit Steinen herauf«, sagte Tonka.
»Das ist ein Bergwerk?«
»Aber ja, und das, was uns interessiert, ist in der runden Hütte dort oben!«
Er war diesen Pfad entlanggegangen. Es konnten erst Minuten verstrichen sein, seit sein leichter, federnder Schritt die Halme niedergedrückt hatte. Wenn sie ein wenig schneller ginge, dann könnte sie ihn einholen. Bald schon würde seine Silhouette vor ihr auftauchen, seine schöne, hochgewachsene Gestalt, die sich trotz der düsteren Nacht vor den Sternen abzeichnen würde. Ivy zwang sich, vor dem Tor zum Friedhof stehen zu bleiben. Dies waren nicht der richtige Ort und die rechte Zeit, an einen Jungen zu denken. Doch gab es überhaupt einen richtigen Ort und eine rechte Zeit dafür? Nicht für sie! Ivy versuchte, nicht an ihn zu denken, obwohl sein Name noch immer durch ihren Geist hallte und die Sterne am Himmel sich zu seinem Gesicht zusammenzufügen schienen.
»Romantische Närrin«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Sie schob das schmiedeeiserne Tor auf, das ein wenig in den verrosteten Angeln knarrte, und betrat den kleinen Friedhof. Ivy schritt zwischen den alten Steinkreuzen
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