Lycana
hindurch. Der Geruch des Todes war an diesem Platz schon längst verweht. Es musste Jahrhunderte her sein, dass hier die letzten Toten vergraben worden waren. Nun bedeckten Gras und Kräuter den Grund, aus dem sich die keltischen Kreuze und ein paar windzerzauste Büsche erhoben. Ivy blieb stehen und sah sich um. Sie war allein. Völlig allein. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus. Eine zitternde Unruhe. Sie war es einfach nicht mehr gewöhnt, ihn nicht ständig an ihrer Seite zu haben.
»Ich sollte es genießen, dass er mir mal nicht auf den Fersen ist«, seufzte sie leise. Das Geräusch des sich öffnenden Gitters ließ sie erstarren. Sie konnte ihn riechen, lange bevor sie seine Umrisse in der Dunkelheit auf sich zukommen sah. Schweigend wartete sie, bis er drei Schritte von ihr entfernt stehen blieb. Auch er schwieg, sah sie aber unverwandt an. Die Anspannung wurde immer unerträglicher, bis Ivy es nicht mehr aushielt.
»Leo, du auch auf diesem alten Friedhof hier? Was für ein Zufall«, sagte sie mit einem kurzen Lachen und schalt sich dafür, dass sie so einfältig daherredete. Was war nur mit ihr los?
Franz Leopold trat bedächtig noch zwei Schritte näher, sodass sie seinen kühlen Atem auf ihrer Wange spüren konnte. Er roch angenehm herb und ein wenig süßlich nach frischem Blut.
»Nein, als Zufall würde ich das nicht bezeichnen. Ich habe dich gewittert.« Seine Nasenflügel blähten sich, als er ihren Duft einsog.
Ivy trat noch ein Stück zurück, bis sie gegen eines der Kreuze stieß. Die Macht des alten Glaubens prickelte wie ein Schauder über ihren Rücken herab. Früher hätte es ihr vielleicht wehgetan, doch heute Nacht hatte der Schmerz, der sie durchfuhr, einen Hauch von Süße - und wurde nicht von dem Steinkreuz verursacht! Ivy keuchte leise. Ihr Blick war noch immer auf sein Gesicht gerichtet. Er tat, als würde er ihre Beklemmung nicht bemerken.
Franz Leopold sah sich suchend um. »Wo ist Seymour?«
»Nicht da«, wehrte sie ab.
»Was? Dein Beschützer lässt dich alleine? Das ist ja ganz was Neues. Da trifft es sich gut, dass ich gerade vorbeigekommen bin, um auf dich achtzugeben.«
In seiner Stimme schwang Zärtlichkeit. Er hob die Hand und strich mit den Fingerspitzen über ihre Wange, die Schläfe entlang und über ihren Hals. Sein Gesicht kam immer näher. Seine Hände trafen sich hinter ihrem Rücken.
Sie sollte ihn von sich stoßen und fliehen. Dies war gefährlicher als jedes Kreuz, als Knoblauch und Weihwasser zusammen, und es machte ihr Angst. Sie sog seine Atemluft ein und ließ sich von seinem Geruch berauschen. Ihre Beine fühlten sich seltsam weich an. Ivy lehnte sich gegen das Kreuz. Ganz deutlich spürte sie jede Unebenheit des Steines, die verwitterten Kanten der Ornamente und Franz Leopolds gespreizte Finger. Es war diese neue, ungekannte Schwäche in ihr, die sie ängstigte. Bisher war die Nacht klar und berechenbar gewesen, doch nun verdeckte sein Gesicht das Sternenlicht und verdunkelte damit auch ihre kühle Vernunft.
»Nicht«, hauchte sie, doch er wollte nicht auf sie hören, und vielleicht war ein Teil von ihr glücklich darüber. Sie riss die Augen weit auf, so als dürfe ihnen keine noch so kleine Regung seiner Miene entgehen. Seine Lippen legten sich auf die ihren und verharrten eine Weile regungslos, so als wäre er genauso erstaunt über diesen Schritt wie sie selbst. Wunderbar kühl waren sie und weich. Dann begannen sie, sich sanft zu bewegen. Er öffnete sie ein wenig und sie schmeckte einen Hauch von Blut. Ivy konnte es nicht verhindern, dass sich ihre Arme um seinen Hals schlangen.
Franz Leopold unterdrückte einen Seufzer, als er spürte, wie der Widerstand in ihr schmolz. Ihre Hände umklammerten fordernd seinen Nacken und er presste das Mädchen noch stärker an sich. Er konnte ihren geraden, schmalen Rücken unter dem hauchdünnen Stoff fühlen und fragte sich für einen Augenblick bang, ob sie unter seinem Griff zerbrechen könnte.
Ein Teil seiner Sinne hörte das Geräusch sich rasch nähernder Schritte und witterte den fremden Geruch, doch der größte Teil seines Geistes schwelgte noch immer in diesem ersten Kuss. Es war noch unglaublicher als der erste Tropfen Menschenblut auf seiner Zunge! Wenn der Augenblick doch niemals enden würde.
Unvermittelt stieß Ivy ihn so stark zurück, dass er einen Schritt zurücktaumelte.
»Was ist denn los?«, fragte er gekränkt. Seine Sinne waren wie in dichtem Nebel gefangen. Er konnte
Weitere Kostenlose Bücher