Lycana
lächelte. »Es gibt eine spannende Geschichte um die drei Kanonen. Mervyn hat sie vorhin erzählt. Sie stammen von einem Schiff namens Girona. Es gehörte zur Spanischen Armada, die 1588 gegen Königin Elisabeth I. nach England segelte. In einem Sturm lief die Girona hier vor der Küste auf ein Riff. Die MacDonnells holten sich nicht nur die Schätze, um ihre Burg auszubauen. Es gelang ihnen auch, diese drei Kanonen zu bergen.«
Sie wurden von der Lycana unterbrochen, bei der ihre Ausbildung in Irland heute Nacht beginnen sollte. Zu Alisas Überraschung war es die Servientin Catriona, die zu ihnen trat, sie durch das Torhaus führte und über die Brücke zu den Gebäuden der Vorburg hinüber. Von hier brachte sie die jungen Vampire durch das äußere Tor ins Freie. Das Land war weit, flach und das Gras im Sonnenlicht sicher saftig grün. Nur in der Ferne erhoben sich ein paar Hügelketten. Entlang der Wege waren Mauern aus Feldsteinen aufgeschichtet. Hecken aus Weißdorn, Schlehen und Fuchsien säumten die von Karrenspuren gefurchten Pfade aus rotbrauner Erde. Zwischen den Hecken und Mauern grasten Schafe. Ab und zu sahen sie auch eine niedere Hütte mit moosbewachsenem Dach, aus deren Kamin Rauchkringel aufstiegen. Daneben ein Schuppen oder Stall für ein Pferd oder ein paar Ziegen.
Schweigend ging ihnen Catriona voran. Die meisten Lycana trugen keine Schuhe - so auch die Servientin - und ganz ähnliche Kleider. Männer und Frauen wählten zwischen langen Gewändern und Hosen mit einer kaum knielangen Tunika aus einem weichen, fließenden Stoff in Grün- oder Brauntönen, die sich mit der Nacht verbanden und in der Natur verflossen. Auch den Gästen - den Erben wie den Servienten - hatte Donnchadh am frühen Abend solche Kleider bringen lassen. Wie nicht anders zu erwarten, protestierten die Dracas aus Wien vehement, doch der irische Clanführer hatte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wenigstens bot er denen, die es wünschten, Schlupfschuhe aus weichem Leder an. Neben den Dracas und den Vyrad nahm auch Luciano die Schuhe gerne an. Alisa dagegen genoss es, die kühle, feuchte Erde unter ihren nackten Füßen zu spüren. Von ihren eigenen Sachen hatte sie nur die kleine Tasche behalten, die sie sich immer um die Hüften band und die ein paar Dinge enthielt, auf die Alisa nicht verzichten wollte. Man konnte nie wissen! Alisas neues Gewand war von blassem Grün, das im Mondlicht bläulich schimmerte. Hose und Tunika schmiegten sich so weich an ihren Körper, dass sie sie kaum spürte und auch nicht das geringste Rascheln zu vernehmen war.
Sie bogen in einen Hohlweg ein. Karrenspuren hatten sich tief in den vom Regen aufgeweichten Morast gegraben. Die Büsche zu beiden Seiten waren zu einer undurchdringlichen Wand verwachsen und schlossen die Vampire mit ihren Zweigen in einen grünen Tunnel ein. Überall raschelte und fiepte es. Im Unterholz blinkten kleine gelbe und rötliche Augenpaare, die sie mit ihren Blicken verfolgten. Dann hörten die Hecken unvermittelt auf und nur noch eine hüfthohe Mauer aus Feldsteinen säumte den Pfad. Elegant sprang Catriona über die Mauer und landete im saftigen Gras, das sich über einen flachen Hügel erstreckte. Alisa folgte ihr ebenfalls in einem Sprung, während Luciano erst auf die Mauerkrone kletterte, ehe er sich ins Gras fallen ließ. Catriona wartete, bis sich alle versammelt hatten. Die Schatten der Gäste blieben etwas abseits unter einer Baumgruppe stehen, ihre Schützlinge immer im Blick. Alisa sah Hindrik neben Francesco und Leonarda stehen, die Lucianos Cousine Chiara diente. Der kindlich wirkende Vampir Vincent begleitete mit zwei älteren Servienten die Londoner Erben. Vermutlich war er wieder mit seiner gesamten Vampirroman-Sammlung angereist, sorgfältig in mehrere Särge verpackt. Die vier Servienten der Dracas hielten sich ein wenig abseits. Nur die Pyras waren wieder ohne Begleitung aus Paris angereist.
Catriona hob die Hände, und noch ehe sie das erste Wort gesprochen hatte, war alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet.
»Fangen wir an. Der Wechsel in ein Tier und wieder zurück in die eigene Gestalt ist nicht einfach. Zuvor muss man das Tier, in das man sich verwandeln will, genau kennenlernen, muss wissen, wie es sieht, hört, riecht, sich bewegt und wie seine Empfindungen sind. Daher beginnen wir damit, die Geschöpfe der Natur zu ergründen. Denn auch wenn wir sie nur rufen und nach unserem Willen lenken wollen, müssen wir erst gelernt haben, in
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