Lycana
ihren Geist einzudringen. Dies ist bei manchen Geschöpfen schwerer, bei anderen leichter. Was denkt ihr, wovon könnte das abhängen?«
Sie sah in die Runde. Natürlich meldete sich keiner. Die Dracas nicht, da sie es für unter ihrer Würde erachteten, sich am Unterricht zu beteiligen, Joanne und Fernand aus Paris nicht, da sie wieder einmal nicht zugehört hatten und stattdessen mit Tammo flüsterten. Die Vyrad aus London hätten vermutlich eine Antwort angeboten, wenn es nicht eine Irin gewesen wäre, die die Frage gestellt hatte, und Luciano zuckte nur mit den Schultern. Zögernd hob Alisa die Hand.
»Ja? Alisa de Vamalia, nicht wahr?«
»Ja, Professorin. Ich könnte mir vorstellen, dass es mit den höher entwickelten Lebewesen schwieriger ist als mit den einfachen.«
»Ein guter Gedanke, aber du musst mich nicht mit Professorin ansprechen. Mein Name ist Catriona. Andere Vorschläge?«
Chiara meldete sich. Sie schaffte es tatsächlich, selbst in diesem locker herabfallenden Gewand weiblich raffiniert auszusehen. Sie war wie Alisa und ihr Vetter Luciano vierzehn Jahre alt, hatte ein rundes Gesicht und lange schwarze Locken.
»Ich hätte gedacht, es ist schwerer, sich in ein ganz kleines Wesen zu verwandeln als in ein großes.«
Catriona nickte. »Gut gedacht. Andere Meinungen?«
Nun meldete sich Malcolm doch zu Wort. Er sah ihr direkt in die Augen. »Es ist eine Frage des Willens!«
»Kannst du das näher ausführen?« Sie hielt seinem Blick stand.
»Wenn sich das einer unserer Schatten erlauben würde«, hörte Alisa Anna Christina sagen. »Sie ist nur eine Unreine! Man sollte sie in ihre Schranken weisen!«
Catriona ignorierte sie und hielt ihre Aufmerksamkeit auf Malcolm gerichtet. »Eine Frage des Willens?«
»Ja, nehmen wir beispielsweise die Menschen. Es ist viel einfacher, den Geist eines Menschen mit schwachem Willen zu beherrschen als den eines Menschen mit starkem.«
Wieder nickte die Lycana. »Gut, dann haben wir die drei wichtigsten Punkte beisammen: die Größe, den Entwicklungsstand und die Geisteskraft oder den Willen eines Lebewesens, wie Malcolm es ausgedrückt hat. Diese Aspekte können in eine Richtung zusammenwirken oder auch gegeneinander. So hat eine Maus sicher einen schwachen Willen, sie ist jedoch höher entwickelt als ein Insekt, allerdings sind beide sehr klein. Daher ist es vielleicht nicht so schwer, eine Maus in eine Richtung zu lenken, die ihrer Natur entspricht. Sie zu etwas Höherem zu animieren oder sich in eine Maus zu verwandeln, ist dagegen nicht so einfach. Eine Fledermaus auf der anderen Seite ist ein hoch entwickeltes Tier, macht die Sache aber durch seine Entwicklungsgeschichte – sie können von Natur aus fliegen, wir nicht - und Größe schwierig. Das Hauptproblem eines Wolfes, der uns von Charakter und Lebensweise nahesteht, liegt in der Kraft seines Willens. Es ist leichter, sich in einen Wolf zu verwandeln, als einem Wolf zu befehlen!«
»Ivy kann es aber«, sagte Luciano. »Seymour gehorcht ihr und weicht nicht von ihrer Seite.«
Catriona sah ihn an. »Ja, Seymour weicht nicht von ihrer Seite. Doch gehorcht er Ivy-Máire oder ist dies sein eigener Wille?«
Catrionas Worte lösten etwas in Alisa aus. Ihre Gedanken wanderten nach Rom und zu ihren Erlebnissen mit Ivy und ihrem Wolf Seymour zurück, und sie achtete für eine Weile kaum auf Catrionas Worte. Die sagte noch einiges über die Schwierigkeit der körperlichen Wandlung und das Problem, die Klarheit des eigenen Verstandes zu bewahren, statt sich im Geist des angenommenen Tieres zu verlieren.
»Und deshalb fangen wir mit der Beherrschung einfach zu lenkender Wesen an«, beendete sie ihren Vortrag. Sie wandte sich um, hob die Arme ein wenig an und machte eine Geste, als wollte sie einen Gast zum Eintreten auffordern.
»Ach, lockt sie nun die Ratten und Mäuse aus ihren Verstecken?«, spottete Luciano.
»Nein, keine Ratten und Mäuse«, widersprach Chiara und deutete auf die weißen Flecken, die sich aus der Dunkelheit lösten und zögernd auf sie zustrebten. »Schafe!« Sie begann zu kichern.
»Ja, Schafe«, bestätigte Catriona und wandte sich wieder zu den jungen Vampiren um. Die ersten wolligen Tiere rieben bereits die schwarzen Köpfe an ihrem Gewand und blökten leise. Die Scheu, die diesen Tieren von Natur aus gegeben war, schien völlig gewichen. Sie schienen sich der Gefahr, der sie ins Auge sahen, nicht bewusst, obwohl sie von Jägern umrandet waren, die schneller und tödlicher
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