Lycana
als ein Mensch es je gekonnt hätte. Bald schon kam das nächste Dorf in Sicht. Wieder schlug sie einen weiten Bogen, dieses Mal nach Westen, denn dort in den Hügeln hinter der Mine erwartete sie ihr Ziel. Die junge Frau verlangsamte ihren Schritt und sah zu der kahlen Fläche, die wie eine Wunde in der Flanke des Berges anmutete. Dazwischen erhoben sich die Hütten der Arbeiter: ärmliche, dünne Männer, Frauen und Kinder, die für einen Hungerlohn in den steil abfallenden Gängen unter Tage schufteten oder das an die Oberfläche geholte Gestein mit Hammer und Meißel in Erz und Abraum trennten. Zwei magere Pferde liefen in der Winde im Kreis und zogen die Förderkörbe nach oben. In einer Hütte abseits lagerte Schwarzpulver. Die Menschen raubten das Erz aus seinem Bett aus hellem Marmor und schwarzgrünem Tiefengestein. Was sie nicht benötigten, häuften sie in Schuttbergen an, das wertvolle Erz wurde mit Pferdekarren nach Oughterard oder zum Ufer des Lough Corrib transportiert. Es war ein Sakrileg!
Das Mondlicht strich über den anmutigen Frauenkörper mit dem langen blonden Haar. Die tiefgrünen Augen waren noch immer auf das Gelände der Glengowla-Mine gerichtet. Noch immer hatte sie sich nicht an den Anblick gewöhnt, obwohl die Menschen nun schon seit fast dreißig Jahren hier im Berg Silber- und Bleierze abbauten. Obgleich auf den Halden niemand zu sehen war und die Lichter in den schmalen Häusern nach und nach erloschen, musste unter Tage noch gearbeitet werden. Ihr scharfes Gehör konnte Stimmen ausmachen, dann kletterten zwei Gestalten eilig aus dem Schacht und entfernten sich einige Schritte. Eine Explosion ließ den Grund unter den Füßen der Frau erbeben. Eine Wolke aus Rauch und Staub quoll aus allen Öffnungen des Berges und legte sich wie ein Leichentuch über die zerstörte Landschaft. Die Männer wandten sich schweren Schrittes ihren Hütten zu. Ein langer Arbeitstag war zu Ende. Morgen, wenn sich der Staub in den Gängen gelegt hatte, würden sie die herabgefallenen Felsbrocken ans Tageslicht schaffen. Eine letzte Tür schlug zu. Die Stille der Nacht kehrte zurück.
Plötzlich ahnte sie eine Bewegung hinter sich. Sie hätte ihn längst wittern müssen, doch der Pulverdampf brannte in ihrer Nase und betäubte ihre scharfen Sinne. Ehe sie herumfahren konnte, schlangen sich zwei kräftige Arme um sie und umschlossen ihre Brust wie ein eiserner Ring. Áine war stark, aber der Mann hinter ihr war noch stärker. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr.
»Ich habe auf dich gewartet. Du bist spät dran. Weißt du nicht, dass jeder Augenblick ohne dich eine Ewigkeit währt?« Er lockerte seinen Griff, sodass sie sich umwenden konnte, um in seine gelben Augen zu sehen, die mit dem Glanz zweier glühender Kohlestücke auf sie herabsahen. Wie groß er war und wie hager. Áine schlang ihre Arme um ihn und presste ihre Wange gegen seine Brust.
»Ich konnte nicht früher. Verzeih. Es ist nicht gut, ihr Misstrauen zu erwecken, und glaube mir, es ist nur allzu leicht zu entflammen!«
Peregrine löste seine Umarmung und strich sanft über das zu ihm auf blickende Gesicht, das einst schön gewesen war, aber seit langer Zeit von zwei Narben auf der rechten Wange verunziert wurde. Auch in ihre Handgelenke und Fußknöchel waren die Spuren der Misshandlung für immer eingegraben.
»Meine Liebe«, hauchte er, »komm, lass uns diesen Ort der Menschen verlassen und gemeinsam die Einsamkeit des Moores fühlen.«
Sie lächelte ihn schelmisch an und küsste seine Lippen. »Ja, lass uns auf die Jagd gehen. Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du keinen Hunger verspürst?«
»Nein, das wäre eine Lüge. Und ich möchte im Licht des Mondes so schnell wie der Nachtwind laufen - an deiner Seite.«
Sie presste ihren Körper an seinen und küsste ihn noch einmal. Er erwiderte den Kuss mit einer solchen Leidenschaft, dass er ihr vermutlich die Rippen gebrochen hätte, wenn sie eine schwache Menschenfrau gewesen wäre. Dann trat er einen Schritt zurück. Er reckte die Glieder und legte den Kopf in den Nacken wie zu einem stummen Schrei. Sie sah zu, wie sein Gesicht sich verformte, in die Länge zog, bis es einer Schnauze glich. Wie sein Körper zuckte und sich wand, bis er auf vier Pfoten hinabfiel. Fell brach aus seiner Haut hervor. Nur seine Augen blieben dieselben. Áine wusste, es war ein Beweis seiner Liebe und seines Vertrauens, dass er sie bei seiner Wandlung dabei sein ließ, dem verletzlichsten
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