Lycana
Stunde nach Mitternacht und viele der Lycana unterwegs auf der Jagd. Donnchadh und einige seiner Getreuen hielten sich in der Grotte auf. Die meisten der Erben saßen in der Halle beisammen oder lungerten am Ausgang der Grotte herum, um die eine oder andere interessante Neuigkeit abzufangen. Auch die Altehrwürdigen der Lycana hielten sich in der Halle auf, um sich zu beraten. Im Nebenhaus waren zwei jüngere Frauen dabei, irgendwelche Dinge in Kisten zu packen. Unreine vermutlich. Der Zeitpunkt war günstig.
Die junge Vampirin schlenderte durch die Burg. Sie durchquerte den großen Hof, passierte den Torbogen und trat bis an die bröckelnde Brüstung heran. Für den Rückweg benutzte sie die andere Seite. Noch einmal durchquerte sie den Saal. Keiner nahm von ihr Notiz. Gut. Sie würde nicht auffallen. Sie kehrte zu ihrem Sarkophag zurück, nahm eine kleine Dose heraus und verbarg sie in ihrem weiten Ärmel. Dann trat die Vampirin in den Hof zurück und schritt auf das Torhaus zu. Bevor sie es passierte, streifte sie sich die Kapuze über den Kopf. Zum ersten Mal war sie froh darüber, dass alle Lycana diese in Schnitt und Farbe kaum zu unterscheidenden Kleider trugen. Die Vampirin ging langsam, zwang sich zu einem schlendernden Schritt, so als gäbe es kein Ziel, dem sie zitternd vor Unruhe zustrebte. Unhörbar passierte sie die Planken der Zugbrücke. Ein paar Unreine kamen ihr entgegen und neigten grüßend den Kopf in ihre Richtung, beachteten sie aber nicht weiter. Niemand hielt sie an. Niemand fragte, was sie vorhabe. Es war geradezu lächerlich einfach! Die Vampirin behielt ihren gemächlichen Schritt bei, bis sie vom Tor aus nicht mehr gesehen werden konnte. Kaum jedoch war sie hinter der ersten Biegung des Weges verschwunden, rannte sie los. Im Laufen zog sie die Dose aus dem Ärmel und öffnete sie. Fiepend hob sich eine kleine Fledermaus in den Nachthimmel und war auch schon verschwunden. Sie sah ihr nicht nach. Sie lief nur weiter, bis sie den Ort erreichte, an dem sie auf weitere Anweisungen warten sollte. Eine frischgrüne Ulme erhob sich neben dem Skelett eines anderen Baumes, dessen Rinde silbrig im Mondlicht schimmerte. Wie Knochenfinger reckten sich die Zweige in die Höhe, vom Wind geschüttelt, als wohne eine unheilige Lebensform in ihnen. Unter der Ulme plätscherte Wasser aus einem hölzernen Rohr in einen kastenförmigen Steintrog. Die Vampirin ließ sich auf dem Rand nieder. Prüfend sah sie in den Himmel hinauf. Es würde sicher noch einige Stunden dunkel sein. Wie lange würde sie warten müssen? Wie schnell wäre ihr Signal dort und wie lange würde es dauern, bis - ja, bis was geschah? Sie wusste es nicht, doch ihr blieb nicht viel Zeit, darüber zu rätseln. Eine Fledermaus, viel größer als die, die sie geschickt hatte, schwebte hernieder, umkreiste sie zweimal in einem engen und dann in immer weiteren Kreisen und kehrte schließlich in die düsteren Schatten der Ulme zurück. Die Vampirin beobachtete sie aufmerksam. Da, eine Nebelwolke schien sich aus dem Nichts zu verdichten, formte wabernde Schwaden, die sich zu drehen begannen, bis sie die Fledermaus verschlangen. Der nächste Windhauch verwehte den Dunst.
Die Vampirin hatte nichts anderes erwartet, und doch hielt sie unwillkürlich den Atem an, als sich die Gestalt aus den letzten Nebelfetzen schälte und auf sie zutrat. Auch sie trug ein langes Gewand, das ihren Körper verhüllte, und eine Kapuze, die den Blick auf ihre Züge verwehrte. Nur war ihres nicht grün, sondern schwarz. Die Stimme war aber eindeutig die einer Frau, auch wenn sie tief klang und mit einem harten Akzent sprach.
»Ich habe dein Signal empfangen. Nun, so sprich. Beantworte nur meine Fragen, kurz und klar. Und dann kehre zurück und errege keine Aufmerksamkeit. Wenn du mich erreichen willst, dann schicke mir meinen Boten.« Sie reichte ihr eine Dose, ähnlich der in ihrer Tasche, in der es leise flatterte.
»Wer seid Ihr? Ich habe bisher nur mit den beiden Vampiren gesprochen.«
»Das tut nichts zur Sache!«
»Aber wie soll ich Euch ansprechen?«
Die Frau zögerte einen Moment, dann sagte sie: »Sprich mich einfach mit Fürstin an. Und nun sage mir, was ich wissen will.«
ÜBERSTÜRZTE ABREISE
Als sie bereits kurz nach Mitternacht wieder in Dunluce Castle ankamen, machten sich Alisa und die anderen als Erstes auf die Suche nach Hindrik.
Sie fanden ihn mit ein paar Servienten der Lycana in der Grotte unter der Burg.
»Was machen die da?«,
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