Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
zugetraut hätte. Nicht dass sie gefühlskalt war, aber sich ihr zu nähern war wie der Versuch, einen scheuen Vogel zu füttern. Man musste die Hand mit den Krumen für lange Zeit ausgestreckt halten, wollte man ihn nicht in die Flucht schlagen. Lydia hatte eine eigene Wohnung am Central Park West, zog es aber vor, in Jeffreys Gästezimmer zu schlafen. Sie blieb, bis er wieder zur Arbeit gehen konnte. Sie freute sich über seine Genesung.
Kurz darauf reiste Lydia nach Europa, um herauszufinden, ob die Vorwürfe der Schwiegermutter zutrafen und Esmy von Buren tatsächlich ihre eigenen Kinder ermordet hatte. Jeffrey versuchte gar nicht erst, sie zum Bleiben zu überreden. Stattdessen küsste er sie sanft auf den Mund.
»Ich bin immer für dich da, Lydia.«
»Und ich für dich.« Sie lächelte ihn an, was selten genug vorkam.
Jeffrey schnallte sich an und stellte zufrieden fest, dass die Kabinentüren sich schlossen und der Platz neben ihm frei geblieben war.
Das Flugzeug rollte auf die Startbahn und beschleunigte. Jeffrey fragte sich zum tausendsten Mal, wie die Dinge sich entwickelt hätten, wenn er Lydia damals im Krankenhaus zur Rede gestellt hätte. Vielleicht hätte nicht mehr viel gefehlt, und sie hätte sich ihm geöffnet wie eine B lume den Sonnenstrahlen. Oder vielleicht wäre sie zusammengebrochen.
Nachdem sie einen Monat zusammengelebt hatten, war Lydia wieder auf Abstand gegangen, mehr als je zuvor. Als das FBI auf Lydias Betreiben hin endlich die Ermittlungen gegen Esmy van Buren aufnahm, rief sie ihn fast täglich an, aber sie redeten immer nur über den Fall. Auch als sie für Esmys Gerichtsverhandlung nach New York zurückkehrte, traf er sie nur selten. Vor zwei Monaten schließlich, nachdem man Esmy wegen dreifachen Mordes verurteilt und Lydia ihren Artikel beim New York Magazine abgeliefert hatte, war sie abgetaucht.
»Ich brauche Erholung. Verdammt, ich bin total kaputt. Ich melde mich bei dir. Pass auf deine Schulter auf.«
Das Flugzeug raste über die Startbahn, verdoppelte seine Geschwindigkeit von einer Sekunde zur nächsten. Jeffrey spürte den Adrenalinstoß. Sein Kopf wurde durch die Beschleunigung gegen das Sitzpolster gedrückt, und er kniff die Augen zu, als die Räder den Bodenkontakt verloren. Warum hatte sie ihn zurückgewiesen, als sie sich so nah waren wie nie zuvor? Sie hatten alle Sicherheiten hinter sich gelassen – sie konnten sich nicht mehr vormachen, dass sie nur gute Freunde waren. Aber Jeffrey fand es besser, wenn sie allein glücklich in ihrer selbst geschaffenen Welt war, als ihr näherzukommen und damit die Beziehung aufs Spiel zu setzen. So ertrug er die schmerzlichen Trennungen und die verlockende, quälende Nähe. Er würde immer zu ihr eilen, sobald sie ihn brauchte.
ACHT
D as letzte Licht der untergehenden Sonne erleuchtete die Kirche zum Heiligen Namen, als Lydia eintrat. Der stille Raum erfüllte sie mit Ehrfurcht, und auf einmal fühlte sie sich wieder wie ein Kind. Wie ein Eindringling. Sie verbannte die lebhaften Traumbilder aus ihren Gedanken, spürte dennoch ein Kribbeln in der Magengrube, so als würde sie jeden Augenblick auf ihre Mutter stoßen. Warum bist du hier?, fragte sie sich. Wie von einer fremden Macht gesteuert hatte sie auf dem Weg zum Flughafen hier angehalten.
Als sie langsam durch den Mittelgang zum Altar ging, knarrten die alten, auf Hochglanz polierten Holzdielen bei jedem Schritt. Lydia trug Stiefel aus Eidechsenleder.
»Ist da jemand?« Wie ein Geist tauchte Juno Alonzo plötzlich in einem Durchgang auf. Er war fast eins fünfundachtzig groß und sehr schlank. Seine Augen waren scheinbar auf Lydia gerichtet – zwei rabenschwarze Knöpfe unter einer gerunzelten Stirn. Dennoch wirkte sein Gesicht freundlich. Er hatte volle, rote Lippen, ein kantiges Kinn und ausgeprägte Wangenknochen. Darüber hinaus besaß sein Gesicht eine ganz eigene Strahlkraft, wie ein zum Leben erwachtes Porträt. Er war mit Abstand der schönste Mann, den Lydia je gesehen hatte – auf eine überirdische, engelsgleiche Art. Sie verspürte den Drang, ihre Sünden zu beichten und in seinen Armen Buße zu tun.
Er hob wieder die Stimme:
»Hallo?«
»Mr Alonzo?«
»Ja?«
»Ich bin Lydia Strong.«
»Die Journalistin?«
»Ja.«
Sie fragte sich, ob er misstrauisch geworden war und sie abweisen würde wie die vielen anderen Journalisten, die ihn hatten interviewen wollen. Doch er lächelte und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen, als habe er sie
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