Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
ziellos mit dem Auto herum und tat Dinge, die sie lieber verdrängte. Eine ganze Armee von Psychiatern hatte sich an ihr die Zähne ausgebissen. An die Ärzte und ihre verschreibungspflichtigen Wundermittel glaubte Lydia schon lange nicht mehr. Es war, als hätte sie ihr Portemonnaie oder die Haustürschlüssel verlegt. Sie kam erst zur Ruhe, wenn sie das verlorene Objekt gefunden hatte. Die Angst quälte sie, dass sie es nie im Leben wiederfinden würde, obwohl sie nicht genau wusste, was sie eigentlich verloren hatte. Trotzdem gab sie die Suche nicht auf. Sie bemühte sich schon lange nicht mehr, das Phänomen zu erklären, sie hatte sich damit abgefunden.
An diesem Abend zwang ihre Ruhelosigkeit sie, um zwei Minuten vor Mitternacht das Haus zu verlassen und zum zweiten Mal an diesem Tag an der Kirche zum Heiligen Namen vorbeizulaufen. Sie hatte sich im Bett hin und her gewälzt, und dann war es über sie gekommen. Lydia hatte versucht, das Gefühl zu ignorieren, einen klaren Kopf zu behalten, sich zum Einschlafen zu zwingen. Aber ihre Beine sehnten sich nach der Straße, und auch ihre Seele wollte hinaus, verzehrte sich nach der Strapaze und der anschließenden Erschöpfung, wenn sie ihren Körper wieder einmal an seine Grenzen gebracht hatte.
Es war, als würde sie an einer unsichtbaren Schnur aus dem Bett gezogen. Hastig schlüpfte sie in ihre Trainingsklamotten. Je eher sie draußen war, desto schneller wich die Rastlosigkeit. Sobald ihre ausgetretenen Nikes die Straße berührten und sie nur noch ihren stoßweise gehenden Atem hörte, war sie frei.
An der Kirche hielt sie inne. Alles war wie am Morgen, nur dass die Sterne am Himmel standen. Lydia beschwor albtraumhafte Szenen herauf, die sich hinter der schweren Holztür abspielten: Opfergaben für eine exotische Gottheit; abgeschlachtete Tiere mit aufgeschlitztem Hals, dunkelrotes Blut auf schneeweißem Fell; überreife, fremdartige Früchte, die nicht mit Messern zerteilt, sondern von gierigen Fingern zerrissen wurden und deren Samen und klebriger Saft den Altar besudelten. Dazu unzählige Blumen – Rosen so rot, dass sie beinahe schwarz wirkten, Gladiolen in Orange, Weiß und Hellrot mit aufgerissenen Blumenmündern. Dicht gedrängt, ein Überfluss an dekadenter, faulig-feuchter, sterbender Schönheit. Nichts war zu hören als das Summen der Fliegen, vielleicht noch gedämpfter Gesang aus dem Nebenraum. Lydia wollte der Vision nicht auf den Grund gehen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig.
Mehrmals täglich driftete sie in ihre Fantasien ab, träumte von bizarren Szenen. So war es, seit sie denken konnte.
Ein Geräusch holte sie in die Gegenwart zurück, und sie fand sich im Mondlicht vor der Kirche wieder.
Da war es wieder. Eine Art Schlurfen, das von der Rückseite der Kirche zu kommen schien. Lydia fühlte sich magisch angezogen, ihre Neugier war geweckt. Lauf weiter. Ignoriere es einfach, was immer es ist – ein Tier, der Pater vielleicht. Es ist unwichtig . Aber Lydia folgte dem Geräusch. Sie wollte wissen, was in der Dunkelheit vor sich ging.
Über der geöffneten Hintertür der Kirche hing eine Laterne, deren schwacher Schein einen Garten erleuchtete. Obwohl sie fast täglich an der Kirche vorbeilief, hatte Lydia ihn noch nie bemerkt. Er war überraschend üppig und voller unbekannter Pflanzen und wucherte über den niedrigen, weißen Zaun, der ihn umgab. Mitten hindurch führte ein geschlängelter Pfad in Form einer Acht. Die exotischen Blumen, aufrecht und stolz wie luxuriös gekleidete Damen der feinen Gesellschaft, die sich ihrer Schönheit bewusst sind, leuchteten in Orange, Lila, Purpurrot und Smaragdgrün. Sie wiegten sich in der leichten Brise, und ihr betörender Duft drang in Lydias Nase.
Durch die geöffnete Tür der Kirche sah Lydia einen Mann. Er war groß und schlank, hatte rabenschwarze Locken und bewegte sich auf ungewöhnliche Art. Vor jedem Schritt streckte er zögerlich die Hand aus. Er schob sich langsam vorwärts und tastete nach einem Hocker, der vor dem Altar stand. Lydia näherte sich der Tür und sah seinen leeren Blick. Er schien seine Augen nicht zu brauchen, denn er orientierte sich allein, indem er hörte und fühlte. Er war blind.
Lydia fiel ein, ihn schon früher gesehen zu haben; dass er blind war, hatte sie seinerzeit jedoch nicht bemerkt. Die Kirche zum Heiligen Namen hatte sie fasziniert, lange bevor sie ihr Haus gekauft hatte. Sie hatte im Eldorado Hotel in Santa Fe gewohnt und war auf der Suche
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