Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
ist nur«, sagte der Mann, »was Sie sehen.«
Sie folgte seinem Blick und entdeckte ihre Mutter. Sie sah nicht so aus wie früher, sondern so, wie Lydia sie zum letzten Mal gesehen hatte.
Ihre Arme waren über dem Kopf gefesselt, und ihre blutigen Handgelenke und die vielen blauen Flecken zeugten von ihrem verzweifelten Kampf. Ihre Lippen hatten sich zu dem wohlbekannten liebevollen Lächeln verzogen, aber ihre Augen waren verdreht und ihr Teint gespenstisch weiß. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten, und weil sie noch atmete, trat blubbernd Blut aus der Wunde. Ihre Füße waren gefesselt, und ihr blutdurchtränkter Slip bis zu den Knöcheln heruntergezogen. Ihr weißes Nachthemd war zerfetzt und mit Dreck, Blut und Sperma besudelt. Sie war nur fünfundvierzig Jahre alt geworden.
Lydia wollte den Mund aufmachen, aber die Wut und das Grauen würgten sie, genau wie vor fünfzehn Jahren.
»Mom«, stieß Lydia hervor, »ich will dir helfen.«
»Nein, Liebes«, antwortete sie, » ich will dir helfen.«
Der blinde Mann spielte Gitarre. Lydia fing zu schreien an.
DREI
D as letzte Glühen hinter der New Yorker Skyline war längst verblasst, als er zum ersten Mal an diesem Tag an Lydia dachte. Jeffrey Mark klappte den Aktenordner zu, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Im Büro von Mark, Hanley und Striker war es still. Nichts war zu hören als das Brummen eines Staubsaugers am anderen Ende des Korridors. Es roch nach verbranntem Kaffee; jemand hatte vergessen, die Maschine abzuschalten.
Jeffrey wirbelte auf seinem Drehstuhl herum, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Millionen von kleinen Rechtecken aus Licht ragten in den sternenlosen Nachthimmel auf. Eine Million Lügen, eine Million gebrochene Herzen, eine Million unaufgeklärte Verbrechen . Wieder einmal fragte er sich, wo sie steckte und warum sie nicht angerufen hatte. Nach fünfzehn Jahren sollte er sich eigentlich daran gewöhnt haben, aber stattdessen konnte er es jedes Mal schwerer ertragen. Er starrte sein Spiegelbild in der schwarzen Fensterscheibe an. Er sah müder und älter aus, als er sich eingestehen wollte. Tief in Gedanken tastete er nach der Verspannung in seiner rechten Schulter.
Er erinnerte sich an die erste Begegnung mit Lydia Strong vor fünfzehn Jahren. Er war damals fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Der Mord an ihrer Mutter war sein erster Fall beim FBI . Marion Strong war eine von dreizehn Frauen, die binnen drei Jahren im Großraum New York umgebracht worden waren. Der Serienkiller hatte jedes Opfer in seinem Haus ermordet, so dass die Kinder es am Nachmittag fanden. Alle Opfer waren alleinerziehende Mütter gewesen und hatten mindestens ein Kind im Teenageralter gehabt.
Man hatte Jeffrey auf den Fall angesetzt, weil kein anderer seiner Kollegen mit Roger Dooley zusammenarbeiten wollte. Dooley war ein Polizeiveteran mit mehr als fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung, einer schwierigen Persönlichkeit und einem Hang zum Perfektionismus. Er wusch sich nur selten, stank nach Fast Food und gescheiterten Beziehungen und war, selbst wenn er gute Laune hatte, der unfreundlichste, zynischste Mann, den Jeff kannte. Drei Jahre lang führte sie jeder neue Hinweis in eine Sackgasse, und irgendwann wurde klar, dass Dooley vor seinem Ruhestand keinen weiteren Fall mehr auf den Schreibtisch bekommen würde. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine glänzende Karriere mit einer Niederlage zu beschließen. Er war ein Arschloch, und Jeff hasste ihn dafür, aber gleichzeitig war er ein begnadeter Ermittler. Jeff hatte alles, was er wusste, von Dooley gelernt.
Dem Mörder wären sie damals nie auf die Schliche gekommen, hätte sich nicht die fünfzehnjährige Lydia eingemischt. Sie hatte einen Sinn für Details und eine lebhafte Fantasie. Tage vor dem Tod ihrer Mutter war ihr ein Fremder auf dem Parkplatz des Supermarkts aufgefallen. Er hatte leuchtend rotes Haar gehabt, hatte neben seinem Auto gestanden – einem rot-weißen Flitzer, der Lydia an ihre Lieblingsserie Starsky & Hutch erinnerte – und Lydias Mutter angestiert.
»Guck mal, Mom, der Mann beobachtet uns«, hatte sie gesagt.
»Lydia, schau da nicht so hin. Steig ins Auto«, erwiderte ihre Mutter in strengem Tonfall. Manchmal trieb Lydias blühende Fantasie sie zur Weißglut, und auch diesmal war das Kind schon wieder in seinem Tagtraum gefangen. Lydia stellte sich vor, der Mann verfolge sie. Mit blauem Kajalstift kritzelte sie sein Nummernschild auf die Rückseite
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