Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
Wohnung gehörte einer alleinstehenden Frau, die zu niemandem eine Bindung unterhielt. Das billige, offenbar selbst zusammengeschraubte Mobiliar war eine Übergangslösung.
Er drückte die Wahlwiederholungstaste des Telefons.
»Sie haben die Nummer des astrologischen Notdienstes gewählt. Herzlich willkommen!«
Er legte auf. Er gab 69 ein, um den letzten eingehenden Anruf zu überprüfen. Er wählte die angezeigte Nummer und wurde vom Anrufbeantworter des Elektrizitätswerks aufgefordert, innerhalb der Sprechzeiten anzurufen. Obwohl er Lust hatte, den Hörer auf die Gabel zu knallen, legte er vorsichtig auf.
Er musste an die anderen Vermissten denken. Es gab Übereinstimmungen. Christine und Harold Wallace hatten nicht einmal einen Telefonanschluss besessen. Ziemlich traurig, wie einsam manche Menschen waren. Ist der Tod denn eine Tragödie, wenn niemand um den Verstorbenen trauert? Egal – es handelte sich immer noch um ein Verbrechen.
Er streifte die Latexhandschuhe ab und steckte sie ein.
»Ich weiß ja nicht, wen die Polizei von New Mexico schicken wird … aber er soll morgen Mittag in mein Büro kommen und mir alle Informationen vorlegen, die er auftreiben kann.«
Er ging in das Zimmer seines Sohnes, zog sich einen OP -Kittel über die blutverschmierte Kleidung und nahm ein unbenutztes Skalpell vom Tablett. Er betrachtete Marias leblosen Körper, den geöffneten Mund, die glasigen Augen. Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Es sinnen die Übertreter auf gottloses Treiben im Grund ihres Herzens. Es ist keine Gottesfurcht bei ihnen. Der Pfad der Gerechten ist gesäumt von Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei der Verworfenen«, sagte er und schlitzte Marias blutiges Nachthemd auf. Seine vor Leidenschaft belegte Stimme wurde lauter: »Gesegnet sei, der im Namen der Barmherzigkeit die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet, denn er ist der Retter der verlorenen Kinder.«
Er drang mit dem Skalpell in Marias Brust ein, durchtrennte die Zwischenrippenmuskeln und zog einen Schnitt bis zum Bauchnabel. Dann legte er das Skalpell beiseite und schaltete die Säge ein. Er öffnete den Brustkorb. Das irre Surren und der schrille Ton, als das Metall auf den Knochen traf, verzückten ihn geradezu. Seine Hände zitterten vor Erregung, er hatte Schweißperlen auf der Stirn.
»Ich will bittere Rache an ihnen üben und sie mit Grimm strafen, dass sie erfahren sollen, dass ich der Herr bin, wenn ich Vergeltung an ihnen übe.« Brüllend durchtrennte er den letzten Knochen.
Lydia saß auf dem weichen Sofa im Wohnzimmer und sah die Sonne hinter den Bergen aufgehen. Als sie in ihrem Bett aufgewacht war, hatte sie sich sicher und behaglich gefühlt bei dem Gedanken, dass Jeffrey im Gästezimmer am anderen Ende des Flurs lag und schlief. Seit seiner Ankunft hatte sich das Gefühl der Ruhelosigkeit gelegt, das sie tagelang gequält hatte. Plötzlich musste sie an Shawna Fox denken, die von einer Pflegefamilie in die nächste abgeschoben worden war, die nirgendwo hineingepasst und ihre Mutter bestimmt schrecklich vermisst hatte. War sie jemals mit dem schönen Gefühl der Geborgenheit aufgewacht? Das grobkörnige Foto in der Zeitung, ein Schulporträt, machte Lydia traurig. Interessierte sich irgendjemand für das Originalfoto, bewahrte irgendjemand es auf? Wer erinnerte sich in fünf oder zehn Jahren noch an Shawna? Und was war mit Christine und Harold? Lag jemand nachts wach und machte sich Sorgen um die zwei? Lebten Menschen wirklich so isoliert, dass sie von niemandem vermisst wurden? Lydia wollte eine Antwort auf diese Frage finden.
Wenn sie mit Jeffrey an einem Fall arbeitete oder ein neues Buch schrieb, interessierten sie normalerweise nur die Fakten aus dem Leben des Opfers: Beruf, Freunde und Bekannte, Gewohnheiten. Persönliche Informationen brauchte sie nicht. Sie wollte die Opfer nicht kennenlernen, ihren Charakter nicht erspüren. Sie blendete alle Gefühle aus, so wie man bei brutalen Bildern den Fernseher abschaltet oder eine traumatische Erinnerung verdrängt. Sie weigerte sich, auch nur eine Spur von Mitleid oder Trauer zu empfinden und wollte mit aller Macht verhindern, dass die Tragödie der Opfer zu ihrer eigenen wurde.
Sie wusste, dass ihre Interviewpartner – Freunde, Geliebte, Angehörige der Opfer – über Lydias Weigerung, Mitgefühl zu zeigen, geradezu gekränkt waren. Sie gab sich immer sachlich und kurz angebunden. Dabei waren der Kummer, das Leid der Menschen,
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