Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
können.
Lydia und Jeffrey folgten in Lydias Mercedes Morrows zerbeultem Streifenwagen. Der Wind wirbelte den Sand auf und drang durch die halb geöffneten Fenster. Das Schweigen stand zwischen ihnen wie ein Stacheldrahtzaun. Sich darüber hinwegzusetzen würde Jeffrey nicht umbringen, aber es würde höllisch wehtun. Deswegen hielt er sich bedeckt, sah die Landschaft vorbeifliegen und bereitete sich in Gedanken auf das bevorstehende Gespräch vor.
In Jeffreys Vorstellung nahm die Kirche zum Heiligen Namen die Ausmaße einer Kathedrale an. Vermutlich, weil sie Lydia so beeindruckt hatte. Er war also etwas überrascht, als sie vor einer unscheinbaren Lehmkirche mit schlichten Holztüren, bescheidenem Glockenturm und kreuzförmigen Fensterchen hielten.
»Das ist sie?«, fragte er.
»Das ist sie«, sagte Lydia.
Sie stieg die drei Stufen zum Eingang hoch und stieß die schwere Tür auf. Jeffrey und Morrow folgten dicht hinter ihr.
Ein schmaler, dunkelhaariger Mann mit verwaschenen Jeans und akkurat gebügeltem, weißem Oxfordhemd begrüßte sie. Lydia stellte ihnen Juno vor, und wieder war Jeffrey überrascht. Nach Lydias Schilderungen hatte er eine engelsgleiche Gestalt mit langer Robe und Heiligenschein erwartet. Deswegen war Jeffrey über das schlichte, bodenständige Aussehen des Blinden angenehm überrascht und schüttelte dessen ausgestreckte Hand.
Juno verschwand in einem Durchgang hinter dem Altar, um Pater Luis zu holen. Lydia, Jeffrey und Morrow warteten vor der Vitrine am Kircheneingang, in der zwei in Leder eingebundene Bibeln, drei Rosenkränze und ein handgeschnitztes Kruzifix auf rotem Samt lagen. Morrow zog einen Plastikbeutel aus seiner Canvasjacke und hielt ihn an die Glasscheibe. Das Kruzifix in der Tüte war mit dem in der Vitrine identisch.
»Sie sehen gleich aus«, bestätigte Lydia.
»Sieht so aus«, sagte Morrow nickend.
Lydia schaute zum wiederholten Mal zu dem Durchgang, in dem Juno eben verschwunden war. Mit Jeffrey hingegen hatte sie seit dem frühen Morgen jeden Blickkontakt vermieden. Genau das hatte er ihr gestern Abend vorgeworfen: Dass sie sich wieder vor ihm zurückzog. Vielleicht würde sie sich niemals ändern, und es war an der Zeit loszulassen und sich auf sein eigenes Leben zu konzentrieren, so traurig ihm der Gedanke auch erscheinen mochte.
Jeffrey setzte sich in eine Bank und beobachtete einen jungen Mann in einem beigen Arbeitsoverall, der den langen Holztisch hinter dem Altar polierte. Er fuhr langsam mit einem Tuch über die glatte Oberfläche, und seine Bewegungen waren steif wie die eines Roboters. Vielleicht spürte er, dass er beobachtet wurde, denn plötzlich hob er den Kopf und warf Jeffrey einen stumpfen Blick zu. Offenbar war der Mann geistig behindert. Jeffrey lächelte ihn an, aber er schlug die Augen nieder und fuhr mit seiner Betätigung fort.
In der ersten Reihe kniete eine alte Frau und hielt den Kopf gesenkt. Jeffrey hörte sie leise beten.
Morrows Schritte hallten laut durch die Kirche, als er den Innenraum inspizierte, hinter einen bestickten Wandteppich und unter alle Bänke schaute. Er betrat sogar den Beichtstuhl, wo er die Fingerspitzen über eine zerfledderte Bibel gleiten ließ.
»Ich wette, Sie haben schon lange keinen Beichtstuhl mehr von innen gesehen«, tönte es plötzlich. Lydia saß hinter dem gusseisernen Trenngitter. Sie hatte Morrow erschreckt.
»Nicht länger als Sie«, gab er forsch zurück, aber sie hörte ihm seine Unsicherheit an.
Lydia kicherte. Er wusste nicht, ob sie ihn auslachte. Er ging zu Jeffrey zurück.
Die Holzwände des Beichtstuhls waren glatt und wurden offenbar regelmäßig poliert. An einer Seite des roten abgewetzten Samtkissens, das auf der Sitzbank lag, quoll die weiße Füllung heraus. Lydia fühlte sich unwohl und beobachtet, so wie bei ihrem ersten Besuch im Kirchgarten. Sie spähte durch das Trenngitter, aber Morrow war verschwunden. Sie nahm die Bibel in die Hand. Der Ledereinband war durch den jahrelangen Gebrauch weich und glatt geworden, und die dünnen Pergamentseiten mit Goldschnitt knisterten leise, als Lydia geistesabwesend darin blätterte. Seit dem Begräbnis ihrer Mutter hatte sie keine Bibel mehr in der Hand gehabt.
»Lydia«, rief Jeffrey.
Sie verließ den Beichtstuhl und sah Juno neben einem Mann, der Pater Luis Alonzo sein musste, in der letzten Kirchbank sitzen. Der Priester stand auf und schüttelte ihr die Hand.
Während Jeffrey von den aktuellen Vermisstenfällen und ihrem
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