Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
Bild aufgetaucht. Wie ein fernes Flüstern hatte er den Duft von Lavendel erhascht, von Rosen, von Lydia. Seit ihrer ersten Begegnung hatte er oft an sie gedacht; sie zu berühren war wie ein Stromstoß, wie glühende Kohlen. An jenem Tag hatte er sie deutlich wahrgenommen – ihre Kraft, ihre Emotionalität, ihre Angst und Verletzlichkeit. Die vielen Facetten ihrer Persönlichkeit, das Schwarz-Weiß ihrer Psyche und ihr innerer Kampf faszinierten und erregten ihn. Ihre Gefühlswelt war so ganz anders als sein ruhiges Seelenleben.
Er merkte, dass sein Onkel immer noch schweigend in der Bank vor ihm saß.
»Onkel, ist alles in Ordnung?«
Die traurige Stille war erdrückend, und als der Priester endlich sprach, klang seine Stimme tränenerstickt.
»Ja. Es ist nicht mein Leben, um das ich fürchte.«
»Natürlich nicht.«
Der Priester stand auf und ließ Juno allein in der Kirche zurück. Juno dachte noch für eine Weile über Lydia und Jeffrey nach. In der Kirche wurde es immer wärmer; die Mittagsstunde rückte näher. Jeffrey hatte besonnen geklungen, aber wenn er Lydias Namen aussprach, bekam seine Stimme einen liebevollen Tonfall. So zärtlich hatten seine Lippen die drei Silben geformt, dass Juno nicht nur seine Leidenschaft, sondern auch seine beherrschte Zurückhaltung herausgehört hatte.
Oft begleitete Juno Trauungen auf seiner Gitarre. Dann saß er rechts vom Altar und von Pater Alonzo auf seinem Hocker. Er hörte, wie Braut und Bräutigam einander ewige Treue schworen, und spürte auf Anhieb, wer des Geldes wegen heiratete, wer aus Angst oder weil er befürchtete, niemand Besseren zu finden. Nur manchmal bekannten sich zwei Liebende mit ehrfurchtsvoller Stimme vor Gott zueinander. Und nur selten vernahm er den harmonischen Gleichklang zweier Seelen, die zueinandergefunden hatten, lange bevor sie in der Kirche irdische Versprechen ablegten.
Eine solche Seelenverwandtschaft hatte er zwischen Lydia und Jeffrey gespürt; nur das Gezeter ihrer Ängste war noch lauter gewesen.
Mit versteinerter Miene saß Lydia am Steuer und zog an ihrer Zigarette. Das Rauchen beruhigte sie. Jeffrey ließ die Seitenscheibe herunter und beobachtete Lydias anmutige Bewegungen, die umso sinnlicher waren, weil sie unbewusst geschahen.
»Ich möchte bei der Wache vorbeischauen. Möglicherweise haben sie etwas über die Besucher des Naturparks herausgefunden. Ich möchte die Liste mit der von den ehrenamtlichen Kirchenmitarbeitern abgleichen«, sagte Lydia, während sie mit überhöhter Geschwindigkeit auf der gewundenen Straße dahinrasten.
»Und ich spreche mit dem geistig behinderten Jungen«, sagte Jeffrey.
»Und, was glaubst du?«, fragte Lydia.
»Ich bin mir nicht sicher. Der Priester hat eindeutig etwas zu verbergen.«
»Das habe ich auch gemerkt. Meinst du, er hat etwas mit der Sache zu tun?« Lydia blies eine Qualmwolke aus.
»Er fährt einen grünen Minivan, er hat die Kruzifixe geschnitzt, er kannte alle Opfer persönlich. Wäre er kein Priester, hätte ich ihn auf der Stelle verhaftet«, sagte Jeffrey, meinte es aber nicht ganz ernst. »Ich glaube nicht, dass er direkt in den Fall verwickelt ist, aber er weiß etwas. Ich werde Morrow bitten, ein paar Männer zur Überwachung der Kirche abzustellen. Die sollen die Gemeinde ein bisschen aufmischen. Außerdem sollten wir den Minivan von der Kriminaltechnik untersuchen lassen.«
»Jeffrey?«
»Ja?«
»Wie lange wirst du bleiben?«
»So lange es notwendig ist.«
Eine lähmende Stille trat ein. Jeffrey wartete, dass sie den Grund für ihre Frage erläuterte, aber Lydia drückte bloß wortlos ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
»Warum fragst du?«, sagte er schließlich. »Soll ich mir irgendwo ein Zimmer suchen?«
»Nein«, sagte sie schnell und warf ihm einen erschrockenen Blick zu, »auf keinen Fall. Wage es ja nicht!«
»Warum dann?«
»Nur so«, sagte sie und zündete sich hastig die nächste Zigarette an. Nach dem ersten Zug fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich schaffe das ohne dich nicht.«
»Musst du auch nicht. Ich bin immer für dich da, wenn du willst. Das weißt du genau.«
Bei diesen Worten starrte er aus dem Fenster. Lydia sah ihn an, und ihr Herz zog sich zusammen. Er legte ihr eine Hand aufs Knie, und sie schob sie nicht weg. Warum hast du vor ihm mehr Angst als vor einem Serienmörder?
Außer dem Hinweis auf den Minivan hatten sie nichts, aber es war immerhin etwas. Lydia saß in einer Arbeitsnische mit klapprigen Trennwänden auf einem
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