Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
sich in der Nacht freigestrampelt hatte. Wie es wohl wäre, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen? Und wie es wäre, eines Morgens aufzuwachen und zu wissen, dass er nie wieder neben ihr liegen würde?
»Wer behauptet, es sei besser, jemanden zu lieben und wieder zu verlieren als niemals zu lieben, ist ein Idiot«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie bei einer der seltenen Gelegenheiten über Lydias Vater sprachen. »Man kann nicht vermissen, was man nie gekannt hat.«
Lydia hatte ihren Vater nur ein einziges Mal getroffen, am Tag nach der Beerdigung ihrer Mutter. Sie hatte allein im Wohnzimmer gesessen und auf die Bäume hinter dem Haus gestarrt. Es war ein klarer, sonniger Tag gewesen, der so gar nicht Lydias Gemütszustand entsprach. Es klingelte an der Tür, aber sie reagierte nicht. Sicher wieder nur ein Nachbar, der kondolieren wollte. Lydia hatte keine Lust mehr, höflich zu nicken und zu lächeln. Aber auf einmal vernahm sie die Stimme ihres Großvaters, der die Tür geöffnet hatte. Ein leises Gemurmel, dann Stille. Ihr Großvater klang verärgert; sicher hatte sie sich verhört.
Plötzlich erschien ihr Großvater mit versteinerter Miene in der Tür. Hinter ihm erschien ein fremder Mann, der Lydias Augen hatte. Er stand leicht vornübergebeugt, war ärmlich gekleidet und hielt verschämt einen Blumenstrauß in der Hand. Er fühlte sich sichtlich unwohl und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Du musst nicht mit ihm sprechen, wenn du nicht willst, Lydia«, sagte ihr Großvater.
Aber ihre Neugier war zu groß. Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter spürte sie etwas anderes als Angst und Entsetzen.
»Nein, Großvater, ist schon okay.«
Sie stand auf, und ihr Vater kam auf sie zu. Er streckte ihr den Blumenstrauß entgegen. Sie nahm ihn an, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Sie hatte sich oft in Tagträumen ausgemalt, wie ihr Vater in ihr Leben trat. Doch in ihrer Fantasie hatte er nie so gewöhnlich ausgesehen. Sie hatte ihn sich als Frauenheld vorgestellt, dunkelhaarig und attraktiv; als tollkühnen, mutigen Draufgänger mit Motorrad; als Geheimagenten, lässig und weltgewandt. Wer sonst hätte das Herz ihrer starken, schönen Mutter erobern und brechen können?
Sicher hatte ihn eine große Verschwörung, eine tödliche Bedrohung von Frau und Kind getrennt, auch wenn ihre Mutter immer etwas anderes behauptet hatte.
»Hör auf, von deinem Vater zu träumen«, hatte sie Lydia oft genug ermahnt. »Er war ein verantwortungsloser Mensch, der dem schnellen Geld nachgejagt ist und den Hals nicht vollkriegen konnte.«
Sie hatte ihrer Mutter kein Wort geglaubt, nicht bis zu diesem Augenblick, als er mit flehendem Blick und zitternden Händen vor ihr stand. Es war, als wäre schon wieder jemand gestorben.
Sie ließ den Blumenstrauß fallen, kehrte dem Mann den Rücken zu und setzte sich wieder ans Fenster. Sie hätte ihm vergeben können, dass er sie verlassen und das Herz ihrer Mutter gebrochen hatte, aber dass er so gewöhnlich war, war in Lydias Augen unverzeihlich. Dass er sie für nichts und wieder nichts verlassen hatte.
Jemand klopfte sanft an die Tür. Lydia kniff die Augen zusammen, rollte sich auf die Seite und stellte sich schlafend. Sie hörte, wie Jeffrey die Tür öffnete und eintrat. Er setzte sich auf die Bettkante.
»Lydia?«
»Hmm?«
»Willst du nicht langsam aufstehen? Morrow kommt in einer Stunde, dann wollen wir zur Kirche fahren.«
Vorsichtig berührte er ihre Schulter. Sein Haar war zerzaust. Er war unrasiert, trug ein weißes T-Shirt, verwaschene Jeans und sah einfach unwiderstehlich aus. Aber Lydia hatte sich im Griff.
»Okay.«
»Ich koche uns einen Kaffee.«
Sie könnte ihn immer noch zurückrufen.
»Jeffrey?«
»Ja?«
»Mach ihn richtig stark.«
»Zu Befehl.« Er antwortete, ohne sie anzusehen, und zog geräuschlos die Tür hinter sich zu.
Ich bin einfach nur zu feige. Wovor habe ich Angst?
Sie wusste die Antwort nicht. Sie wusste nur eins: Wenn sie sich vorstellte, sich Jeffrey hinzugeben, fühlte sie sich wie das Kind von damals, das vor der geöffneten Haustür gehockt hatte. Das Gefühl glich einer alle Sinne benebelnden Angst, einem Zustand kurz vorm Zusammenbruch, als würde sie an einem Abgrund taumeln. Es überwältigte sie, lähmte sie, zwang sie zum Rückzug.
Es lag nicht nur an Jeffrey. Es war so, seit Lydia denken konnte, mit jedem Mann, der versucht hatte, ihr näherzukommen. Nur dass Jeffrey geblieben war, weil er feine Antennen hatte, wann sie
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