Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
verließ, entpuppte sich die Black Canyon Road als breite Schotterstraße. Zu beiden Seiten der Fahrbahn ragten mächtige Zitterpappeln auf. Es war so dunkel, dass Lydia die Scheinwerfer einschalten musste, um die in großen Abständen am Wegesrand aufgestellten Briefkästen erkennen zu können. Da sie sich hier auch Häuser angesehen hatte, kannte sie die Straße und wusste, dass am Ende der langen, gewundenen Einfahrten einzigartige, luxuriöse Bungalows standen, wie sie für diese Gegend typisch waren. Die meisten überblickten den Eagle’s Nest Lake und waren unbezahlbar. Lydia fuhr die Straße mehrfach ab, ohne die Nummer 124 zu entdecken. Folglich musste es die Auffahrt sein, die als einzige weder Briefkasten noch Namensschild hatte.
Sie bog nach rechts von der Black Canyon Road ab und folgte der steilen, gewundenen Einfahrt, bis sich die Bäume teilten und der Weg auf einer unbebauten Lichtung endete. Lydia nahm die Glock aus dem Handschuhfach und stieg aus dem Auto.
Es war so still, dass sie das Ticken des abkühlenden Motorblocks hörte. Sie vernahm ein Rascheln und drehte sich um. Ein Reh, zur Flucht bereit, starrte sie aus großen Augen an. Am Himmel hingen Wolkenfetzen, die Temperatur war merklich abgefallen. Es roch nach Kiefern und nach verbranntem Holz. Lydia ließ den Blick durchs Tal schweifen, über den See und die angrenzenden Berge. Die Aussicht war spektakulär, und Lydia dämmerte, dass sie diesen Ort kannte. Sie hatte das Grundstück seinerzeit besichtigt.
Die Maklerin hatte Lydia die Lichtung gezeigt und ihr vorgeschlagen, selbst zu bauen, da ihre Wünsche, wie sie vorsichtig anmerkte, zu »ausgefallen« seien. Das Grundstück war schön, aber der Blick auf die Nachbarhäuser hatte Lydia missfallen.
Ihre Gedanken überschlugen sich, und sie betrachtete den Zettel mit Namen und Adresse in ihrer Hand. Christian I. Deeme … Der Name kam ihr seltsam vor, unstimmig und vertraut zugleich. Dass sie jetzt auf demselben Grundstück stand, das sie damals fast gekauft hätte, konnte kein Zufall sein. Aber wenn man sie hergelockt hatte, musste sie schon lange unter Beobachtung gestanden haben. Hatte der Killer gewusst, dass sie sich in die Ermittlungen einmischen würde? Hatte er es gar geplant? Lydia lief ein eisiger Schauer über den Rücken, während sie ihren Umzug nach New Mexico noch einmal Revue passieren ließ.
Zum ersten Mal war sie vor drei Jahren nach Santa Fe und Angel Fire gekommen; sie hatte in Albuquerque Bücher signiert. Als sie aus dem Flugzeug ausgestiegen war, hatte sie sofort das Gefühl gehabt, angekommen zu sein. Es lag an der besonderen Luft, am weiten Sternenhimmel, der sie umfangen hatte wie eine kuschelige Decke. An den kleinen Häusern, die so gemütlich waren, dass man sich geborgen fühlte wie im Mutterleib. Und an der Landschaft – den überwältigenden Bergen, den heißen Quellen, den bewaldeten Hochebenen, der Wüste. Sie fühlte sich wie im Himmel, und nach ihrer Abreise sehnte sie sich so sehr nach New Mexico zurück, dass sie sich in der Gegend ein Haus kaufte.
Die Signierstunde hatte bei Barnes & Noble in Albuquerque stattgefunden. Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern, ob ihr bei der Lesung jemand Merkwürdiges aufgefallen war … Allerdings hatte sie Buchläden im ganzen Land besucht, und zu jedem Termin erschien mindestens ein Freak, der mit sanfter Gewalt vom Signiertisch nach draußen geleitet werden musste. Lydia beachtete diese Spinner schon gar nicht mehr.
Sie dachte an die Leute, die ihr während der Haussuche begegnet waren: Makler, Baufinanzierer, Reinigungskräfte, Gärtner, Schlosser. Keiner war ihr seltsam erschienen, bei niemandem hatte sie ein ungutes Gefühl gehabt.
»Was willst du von mir? Und warum sollte ich herkommen?«, fragte sie leise. Sie musste an den Füllfederhalter denken: Mein ist die Rache . Wollte er sich an ihr rächen? Hatte sie ihm ein Unrecht getan? Hatte sie über ihn geschrieben und ihn damit gekränkt?
Sie trat an den Rand der Lichtung. Am Ende des sanft abfallenden Hanges stand dichter Wald. Durch die Stämme der Kiefern blitzten die Fensterscheiben der Nachbarhäuser in der Sonne. Lydia kletterte hinunter und hielt sich an Ästen fest, während ihre Stiefel aus Eidechsenleder in der weichen Erde kaum Halt fanden. Sie kämpfte sich durch den Wald, den Blick auf den Boden gerichtet auf der Suche nach menschlichen Spuren … einem Streichholzbriefchen, einer Zigarettenkippe, einer Getränkedose, irgendetwas. Links
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