Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
hörte sie ein Rascheln im Gebüsch und drehte sich um, rechnete schon fast wieder mit dem Reh, konnte aber nichts sehen. Ein Wolkenfetzen schob sich vor die Sonne, und für einen Moment war der Waldboden fast schwarz. Ein paar Meter weiter erkannte sie einen nur wenige Zentimeter breiten Flecken, der sich strahlend weiß von den grünen, braunen und rostroten Naturtönen abhob.
Lydia ging langsam auf den weißen Fleck zu, als plötzlich ihr Handy klingelte. Sie zuckte zusammen.
»Hallo?«
»Wo steckst du? Der diensthabende Officer hat gesagt, du hättest dich klammheimlich verdrückt.«
»Warte kurz …«
»Lydia? Lydia!«
Seine Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, als Lydia sich hinkniete und Blätter und Erde beiseiteschob. Ein weißer Plastikfetzen ragte aus dem Waldboden. Lydia wich zurück. Sie wollte nicht noch mehr Spuren zerstören.
»Jeff«, sagte sie und schaute sich panisch um.
»Lydia, wo zum Teufel steckst du?«
»In der Black Canyon Road 124. Es ist die einzige Auffahrt ohne Hausnummer. Bring Morrow mit. Wir brauchen den Rechtsmediziner und alle anderen auch.«
»Was hast du entdeckt?«
»Ich glaube, hier liegt jemand begraben.«
Jeffreys Stimme war freundlich, aber er strahlte gleichzeitig so viel Autorität aus, dass alle im Raum ihm plötzlich ihre volle Aufmerksamkeit schenkten. Zum ersten Mal in der Geschichte des Bezirks hatte die Polizei es mit einem Serienmörder zu tun. Im abgedunkelten Raum saßen Lydia, Chief Morrow, Henry Wizner und andere Ermittler am Konferenztisch und machten sich Notizen. Jeffreys Vortrag wurde immer wieder vom Klappern des Diaprojektors unterbrochen, den Morrow bediente. Auf der Leinwand erschienen blutrünstige Bilder von Tod und Verwesung.
»Wir gehen mittlerweile von einem Serientäter aus und haben die Privatdetektive Jeffrey Mark und Lydia Strong wegen ihrer großen Erfahrung auf diesem Gebiet um ihre Mitarbeit gebeten«, hatte Chief Morrow zur Einführung gesagt und Lydia und Jeff seinen Kollegen vorgestellt. »Ihre Anwesenheit erspart uns den Anruf beim FBI . Keiner von uns möchte mit der Bundesbehörde zusammenarbeiten, richtig? Ich bitte Sie, Lydia und Jeffrey ebenso viel Respekt entgegenzubringen wie mir und ihre Anweisungen zu befolgen. Bis das FBI Wind von der Sache kriegt, stehen wir längst als Helden da – und nicht als ein Haufen von Dorftrotteln, die ihren Bezirk nicht unter Kontrolle haben.«
»Heute haben wir die Leichen von Christine und Harold Wallace gefunden«, erklärte Jeffrey. »Jetzt haben wir drei Leichen ohne Herz und wissen nicht, wo oder warum der Mörder den Eingriff vornimmt. Wir wissen nur, dass der Fundort nicht dem Tatort entspricht. Was die Beweise angeht, so haben wir nicht mehr als einen halben Fußabdruck, der in der Nähe von Maria Lopez’ Leiche entdeckt wurde.
Aufgrund der wenig spektakulären und dennoch unverzichtbaren Laufarbeit, die Detective Raymond Barnes von der Mordkommission für uns erledigt hat«, fuhr Jeffrey fort und zeigte auf einen bulligen Mann mit gerader Haltung und militärisch kurzem Haarschnitt, »wissen wir inzwischen, dass es sich um einen Stiefel mit Gummisohle der Marke Timberland handelt, Modell Toledo. Das hilft uns nicht weiter, weil das Modell beliebt ist und in nahezu jedem Schuhgeschäft der Umgebung verkauft wird.
Die Leichen von Christine und Harold Wallace waren stark verwest. Wir können noch nicht sagen, ob das Herz vor oder nach dem Tod entnommen wurde.«
»Ist das von Bedeutung?«, fragte ein Officer.
Hinter Jeffrey zuckten Bilder der beiden verstümmelten Leichen über die Leinwand.
»Ja«, antwortete er. »Denn daraus lässt sich ableiten, wie krank der Täter ist.«
Einige lachten nervös.
»Und nur«, fuhr Jeffrey in ernsterem Ton fort, »wenn wir so viel wie möglich über seine Vorgehensweise wissen, können wir sein Motiv erraten. Und erst wenn wir sein Motiv kennen und verstehen, können wir uns ein Bild von ihm machen.
Wir wissen Folgendes: Er überwältigt seine Opfer, betäubt oder tötet sie, verschleppt sie an einen unbekannten Ort und legt die Leichen schließlich an anderer Stelle ab. Er entfernt das Herz, das ist seine Signatur. Für alle, die die letzte Folge von Profiler verpasst haben: Mit ›Signatur‹ oder ›Handschrift‹ ist ein Vorgehen gemeint, das über die reine Durchführung der Tat hinausgeht. Es verrät uns etwas über die speziellen Bedürfnisse des Täters. Dazu gehört in diesem Fall, dem Opfer das Herz zu entnehmen. Ich
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