LYING GAME Und raus bist du
vorsichtig gegen die Tür, die leicht und lautlos aufging.
Im Zimmer duftete es nach Minze, Maiglöckchen und Weichspüler. Mondlicht drang durch das Fenster und beschien ein tadellos gemachtes Himmelbett. Ein Teppich mit Giraffenfell-Druck lag links davon, und ein Kugelsessel in der Ecke war mit T-Shirts, Bikinioberteilen und zusammengeknüllten Sportsocken übersät. Auf den Fenstersimsen standen Kerzen in großen Glaskrügen und blaue, grüne und braune Weinflaschen, in deren Hälsen Blumen steckten. Außerdem lagen dort die Überreste von ein paar aufgegessenen Valrhona-Schokoladentafeln. Alle verfügbaren Oberflächen waren mit Kissen bedeckt – auf dem Bett lagen mindestens zehn, drei auf dem Sessel und ein paar weitere auf dem Boden verstreut. Auf einem langen, weiß gebeizten Schreibtisch standen ein schlafendes Mac-Air-Notebook und ein Drucker. Eine Karte mit den Worten Suttons achtzehnte Geburtstagsparty. Glamour erwünscht! lehnte neben der Maus. Ein Rollschrank unter dem Schreibtisch war durch ein großes, pinkfarbenes Vorhängeschloss gesichert. Darüber stand Das L-Spiel . Hatte das etwas mit der Serie » The L-Word « zu tun?
Das Zimmer war perfekt, aber etwas Entscheidendes fehlte. Sutton.
Natürlich fehlte ich. Ich schaute mich mit Emma zusammen in dem stillen Zimmer um und hoffte, dass es eine Erinnerung in mir auslösen oder mir einen Hinweis geben würde. Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass das Fenster zum Hintergarten halb offen stand? Hatte ich die Ausgabe der Teen Vogue absichtlich bei einem Artikel über die Londoner Fashion Week aufgeschlagen liegen lassen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, die Ausgabe gelesen zu haben, und schon gar nicht, warum ich bei diesem Artikel aufgehört hatte. Ich konnte mich an gar nichts in diesem Zimmer erinnern, das voller Dinge war, die einmal mir gehört hatten.
Emma checkte wieder ihr Handy. Keine neuen Nachrichten. Sie hätte sich gerne im Haus umgesehen, aber sie hatte Angst, im Dunkeln irgendetwas umzuwerfen … oder jemandem zu begegnen. Sie schickte eine neue SMS an Suttons Nummer. Ich bin jetzt in deinem Zimmer. Wo du auch bist, schreib zurück, damit ich weiß, dass du okay bist. Ich mache mir Sorgen.
Sie drückte auf Senden. Einen Sekundenbruchteil später ertönte ein gedämpfter Piepton von der anderen Zimmerseite, was Emma zusammenzucken ließ. Sie ging in Richtung des Geräusches und sah eine silberne Clutch-Handtasche neben dem Computer liegen. Sie machte den Reißverschluss auf. In der Tasche lagen ein iPhone mit rosafarbener Hülle und ein blauer Kate-Spade-Geldbeutel. Emma zog das Handy heraus und schnappte nach Luft. Die SMS , die sie gerade geschrieben hatte, leuchtete auf dem Display.
Sie begann sofort, alle SMS des heutigen Tages zu durchsuchen. Da war die letzte, die Emma geschickt hatte. Darüber war um zwanzig nach acht eine SMS von Laurel Mercer, Suttons Schwester, eingegangen:
Vielen Dank, du Miststück!
Emma ließ das Handy fallen und wich vom Schreibtisch zurück, als sei er von giftigem Schimmel bedeckt. Ich kann doch nicht einfach ihr Handy durchsuchen , schimpfte sie mit sich selbst. Sutton konnte jeden Augenblick ins Zimmer kommen und sie dabei erwischen. Das wäre kein guter Auftakt für ein schwesterliches Verhältnis.
Emma nahm wieder ihren BlackBerry in die Hand und schickte Sutton eine private Facebook-Nachricht, in der sie noch einmal sagte, wo sie war. Vielleicht war Sutton ja unten, benutzte den Computer im Arbeitszimmer und hatte nur ihr Handy hier oben vergessen. Dann überprüfte sie den Rest des Zimmers. Hinter dem Schreibtisch hing eine Pinnwand voller Fotos von Sutton und ihren Freundinnen, den Mädchen, die Emma erst vor ein paar Stunden kennengelernt hatte. Manche Bilder wirkten ziemlich aktuell: Auf einem Bild von Sutton, Charlotte, Madeline und Laurel im Affenhaus des Zoos von Tucson trug Charlotte dasselbe blaue Kleid, das sie auch heute Abend getragen hatte. Ein Bild zeigte Sutton, Madeline, Laurel und einen dunkelhaarigen Jungen, die in einem Canyon neben einem Wasserfall standen. Laurel und der Junge spritzten sich gegenseitig nass, während Sutton und Madeline in arroganter Pose danebenstanden. Andere Fotos wirkten viel älter und stammten vielleicht aus der Mittelstufe. Ein Bild zeigte das Freundinnen-Trio hinter einer Schüssel mit Kuchenteig, mit dem sie sich gegenseitig die Gesichter verschmierten. Madeline trug ein Ballett-Trikot und war, nun ja, flacher als jetzt. Charlotte hatte
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