LYING GAME Und raus bist du
sie.
»Du hast noch genau zehn Minuten, um dich für die Schule fertigzumachen.« Mrs Mercer hielt Emma ein Kleid auf einem Bügel und ein paar Sandalen mit hohen Absätzen vor die Nase. Dann musterte sie sie genauer. »Ich hoffe, du bist nicht so vor dem offenen Fenster herumspaziert.«
Emma schaute an sich herunter. Irgendwann in der Nacht hatte sie im Schlaf ihr Kleid ausgezogen und trug jetzt nur einen BH und eine Unterhose. Schnell verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Dann starrte sie die Keilsandalen an, die sie gestern auf den Boden geworfen hatte. Sie waren keinen Millimeter verrückt worden. Suttons silberne Clutch und ihr iPhone mit der pinkfarbenen Hülle lagen immer noch auf ihrem Schreibtisch. Emma kam mit einem harten Aufprall in der Realität an. Sutton ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen , wurde ihr bewusst. Sie hat mich nicht gefunden.
»Moment.« Emma packte Mrs Mercer am Arm. Dies war viel zu weit gegangen. Irgendetwas stimmte hier nicht. »Das ist ein Fehler.«
»Natürlich ist es ein Fehler.« Mrs Mercer eilte durchs Zimmer und warf ein paar Sporthosen, ein Sportoberteil, T urnschuhe und einen Wilson-Schläger in eine große, rote Tennistasche, auf die Sutton gestickt war. »Hast du dir nicht den Wecker gestellt?« Dann hielt sie inne und schlug sich leicht gegen die Stirn. »Was rede ich denn da? Natürlich hast du ihn nicht gestellt. Du bist ja schließlich du.«
Ich beobachtete, wie meine Mom die Tennistasche aufs Bett warf und den Reißverschluss zuzog. Sogar meine eigene Mutter erkannte nicht, dass Emma nicht ich war.
Mrs Mercer schob Emma zu dem Kleid, das sie aufs Bett gelegt hatte. Als Emma bewegungslos stehen blieb, seufzte sie, riss das Kleid vom Bügel und zerrte es Emma über den Kopf.
»Deine Schuhe kannst du aber alleine anziehen, oder?«, sagte Mrs Mercer spitz und hielt eine Sandale am Riemen hoch. Auf dem Label stand marc by marc jacobs . »Sei in zwei Minuten zum Frühstück unten.«
»Moment noch!«, protestierte Emma, aber Mrs Mercer war bereits aus dem Zimmer marschiert und knallte die Tür so heftig hinter sich zu, dass ein Schnappschuss von Sutton, Laurel, Charlotte und Madeline von der Pinnwand fiel und mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden landete.
Emma starrte panisch die Wände des stillen Zimmers an und rannte dann zu dem Sofa, auf das sie ihr Handy gelegt hatte. Keine neuen Nachrichten, stand auf dem Display. Sie eilte zu Suttons iPhone auf dem Schreibtisch. Sie hatte eine neue SMS bekommen, aber es war nur Garrett. Du bist gestern Abend einfach so verschwunden! Bis gleich in der ersten Stunde! Xx!
»Das ist doch verrückt«, flüsterte Emma. Sie erinnerte sich an eine Nachricht, die sie auf Suttons Facebook-Pinnwand gesehen hatte, bevor sie aus Vegas abgereist war. Habt ihr schon mal daran gedacht, einfach abzuhauen? Ich schon. War Sutton vielleicht abgehauen und wollte, dass Emma so lange ihren Platz einnahm, bis sie ihre Spuren verwischt hatte? Barfuß eilte sie aus Suttons Zimmer und rannte die Treppe hinunter. Der untere Flur war mit riesigen, gerahmten Familienbildern dekoriert: Schulporträts, Bilder aus Familienurlauben in Paris und San Diego und ein Foto der Familie Mercer bei einer Edelhochzeit, wahrscheinlich in Palm Springs. Emma folgte dem Klang der Morgennachrichten und dem Duft von Kaffee in die Küche, einen riesigen Raum mit blitzsauberen Fenstern, die bis zum Boden reichten und auf einen mit Klinker gepflasterten Innenhof und die fernen Berge blickten. Die Arbeitsflächen waren dunkel, die Schränke weiß, und überall standen Küchenutensilien in Ananas-Form herum – Holzananas auf den Schränken, eine hohle Keramik-Ananas, in der Pfannenwender und Holzlöffel standen, ein ananasförmiges Blechschild bei der Hintertür, auf dem »Willkommen« stand.
Mrs Mercer schenkte sich an der Spüle Kaffee ein. Suttons Schwester Laurel zerstückelte ein Croissant am Küchentisch. Sie trug ein fließendes, bedrucktes Top, das genauso aussah wie eine der Blusen, die Emma gestern in Suttons Schrank gesehen hatte. Mr Mercer kam durch die Tür und hielt in Folie geschweißte Ausgaben des Wall Street Journal und des Tucson Daily Star in der Hand. Er trug einen Arztkittel, auf dem »J. Mercer, Orthopädie« stand. Wie Mrs Mercer war auch er ein bisschen älter als die meisten Pflegeeltern, die Emma bislang gehabt hatte, wahrscheinlich gut erhaltene Mitte fünfzig. Emma fragte sich, ob die beiden wohl versucht hatten, eigene Kinder zu
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