LYING GAME - Weg bist du noch lange nicht
aufhalten lassen?«
Emma verzog das Gesicht. Sutton hatte Charlotte letztes Jahr Garrett ausgespannt.
Ich war also offenbar keine besonders loyale Freundin gewesen, das musste ich zugeben. Und den Kritzeleien in Charlottes Notizbuch und dem Foto unter ihrem Bett nach zu urteilen, trauerte sie Garrett immer noch nach – und das war ein ziemlich gutes Motiv dafür, mich aus dem Weg zu räumen.
Ein Schatten fiel auf den runden Tisch. Vor Emma und den anderen stand ein Mann mit glatt zurückgekämmten Haaren und nussbraunen Augen. Sein blaues Polohemd war gestärkt und seine Khakihosen perfekt gebügelt.
»Daddy!«, rief Madeline mit zitternder Stimme. Augenblicklich wirkte sie überhaupt nicht mehr cool und beherrscht. »Ich … ich wusste ja gar nicht, dass du heute hier bist!«
Mr Vega starrte auf die halb ausgetrunkenen Gläser auf dem Tisch, und seine Nasenlöcher zuckten, als könne er den Alkohol riechen. Sein Lächeln blieb unverändert, aber es wirkte irgendwie unecht und machte Emma nervös. Madelines Vater erinnerte sie an ihren Pflegevater Cliff, der in Utah Gebrauchtwagen verkauft hatte und sich binnen genau vier Sekunden vom aufbrausenden Tyrannen zum schleimigen, unterwürfigen Verkäufer verwandeln konnte.
Mr Vega schwieg noch einen Augenblick. Dann beugte er sich vor und legte seine Hand auf Madelines nackten Oberarm. Sie zuckte kaum merklich zusammen.
»Bestellt euch, was ihr wollt, Mädels«, sagte er leise. »Ich lade euch ein.« Er drehte sich mit militärischer Präzision um und ging durch den gemauerten Torbogen in Richtung Golfplatz.
»Danke, Daddy!«, rief Madeline ihrem Vater nach und ihre Stimme zitterte nur ganz leicht.
»Das war ja süß«, murmelte Charlotte unsicher, als er gegangen war, und warf Madeline einen Seitenblick zu.
»Ja.« Laurel fuhr mit dem Zeigefinger über den geschwungenen Rand ihres Tellers und wich Madelines Blick aus.
Alle sahen aus, als hätten sie am liebsten noch etwas gesagt, aber niemand tat es … niemand wagte es. Madelines Familie hatte eine Menge Geheimnisse. Ihr Bruder Thayer war abgehauen, bevor Emma in Tucson eingetroffen war. Überall hingen Poster mit seinem Konterfei und dem Aufdruck: VERMISST .
Einen Augenblick lang erinnerte sich Emma beinahe sehnsüchtig an ihr altes Leben zurück – ihr sicheres Leben. Sie hätte nie geglaubt, dass sie einmal so über ihre Jahre als Pflegekind denken würde. Sie war nach Tucson gekommen, weil sie gehofft hatte, dort alles zu finden, was sie sich so sehnlich wünschte: eine Schwester und eine Familie, die ihr Leben vervollständigen würde. Stattdessen hatte Emma eine Familie gefunden, die nicht einmal merkte, dass ihnen eine Tochter fehlte, und eine tote Zwillingsschwester, deren Leben ihr von Minute zu Minute komplizierter vorkam. Außerdem lauerten in allen Ecken potenzielle Mörder.
Emma stieg das Blut in die Wangen, die angespannte Atmosphäre am Tisch wurde ihr plötzlich zu viel. Sie schob ihren Stuhl zurück, der laut über den Boden kratzte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und eilte durch die Flügeltüren zur Damentoilette.
Sie betrat den leeren, verspiegelten Vorraum, in dem bequeme, cognacfarbene Ledersofas und ein Holzkorb voller Haarspraydosen, Tampons und Händedesinfektionsmittelfläschchen standen. Es duftete nach Parfüm und aus den Lautsprechern drang klassische Musik.
Emma ließ sich in einen der Sessel vor der Spiegelwand sinken und betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr ovales Gesicht, das von welligem, hellbraunem Haar umspielt wurde, starrte sie mit ihren blauen Augen an, die in diesem Licht vergissmeinnichtfarben wirkten. Genau dieselben Gesichtszüge trug auch das Mädchen, das von den Familienfotos in der Diele der Mercers lächelte, das Mädchen, dessen Kleider sich auf Emmas Haut kratzig anfühlten, als spüre ihr Körper, dass sie nicht zu ihr passten.
Und um Emmas Hals hing Suttons silbernes Medaillon – das Medaillon, mit dessen Kette der Mörder Emma in Charlottes Küche gewürgt hatte. Sutton musste das Medaillon getragen haben, als sie starb. Jedes Mal, wenn sie die glatte silberne Oberfläche berührte oder sie im Spiegel glitzern sah, erinnerte sie sich daran, warum sie Suttons Rolle spielte. Egal, wie unangenehm es ihr war, sie musste es tun, um den Mörder ihrer Schwester zu finden.
Die Tür ging auf und die Geräusche des Speisesaals drangen in den Toilettenvorraum. Emma drehte den Kopf. Eine blonde junge Frau im College-Alter, die ein pinkfarbenes Polohemd
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