LYING GAME - Weg bist du noch lange nicht
Retourkutsche für ihren Schlagfertigkeits-Ordner aufbewahren, in dem sie all die bissigen Antworten aufschrieb, die sie nicht gewagt hatte, auszusprechen.
»Weißt du denn wenigstens noch, was du geklaut hast?«
»Wie bitte?«
»Als du das letzte Mal hier warst«, sagte Samantha so langsam, als spreche sie mit einem Kleinkind, »hast du mit deinen Freundinnen ein paar gehämmerte goldene Ohrringe gestohlen. Oder hast du das etwa auch vergessen?«
Offenbar hatte ich meinen letzten Tag auf dieser Erde als Ladendiebin verbracht.
Emma hing an Samanthas Lippen. »Meine Freundinnen? Welche denn?«
»Jetzt mal im Ernst, bist du high?« Samanthas Augen brannten. »Glaub mir, wenn ich wüsste, wer sie sind, und wenn ich einen Beweis dafür hätte, was ihr hier abgezogen habt, wäre euch schon längst eine Anzeige ins Haus geflattert.« Mit diesen Worten drehte sie sich um, marschierte auf ihren hochhackigen Stiefeletten in den hinteren Teil des Geschäfts und begann fieberhaft, einen Stapel Argyle-Pullis neu zu falten.
Einen Augenblick lang hörte man nur den treibenden Beat des Chemical-Brothers-Remix, der aus den Lautsprechern drang. Dann strich Emma mit den Fingern über ein kratziges Wollkleid und schaute Ethan verstohlen an. »Mit welchen Freundinnen war Sutton an diesem Tag denn unterwegs? Und warum haben sie mir nichts davon erzählt?«
Ethan nahm einen Ballerina in die Hand und drehte ihn in den Händen. Dann setzte er ihn wieder neben sein Gegenstück. »Vielleicht hatten sie Schiss wegen des Ladendiebstahls?«
»Wegen des Ladendiebstahls? Ist das dein Ernst?« Emma ging auf Ethan zu und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern.
»Diese Mädchen haben Sutton aus Jux beinahe erwürgt. Und als ich am ersten Schultag im Streifenwagen nach Hollier gebracht wurde, haben sie sich vor Begeisterung beinahe in die Hose gemacht.«
Emma dachte an ihre Stippvisite im Polizeirevier. Die Bullen hatten sofort abgewinkt, als sie versucht hatte, ihre Identität zu beweisen. Niemand hatte ihr geglaubt, dass sie nicht Sutton war. Aber Sutton hatte auch ganz schön viel auf dem Kerbholz – Detective Quinlan, der diensthabende Beamte, hatte einen dicken Aktenordner mit Suttons bisherigen Vergehen auf den Tisch gelegt. Er enthielt wahrscheinlich Informationen zu unzähligen Lügenspiel-Streichen.
Emma richtete sich auf. Auf einmal hatte sie eine Idee. Vielleicht enthielt der Aktenordner ja auch etwas über den Zug-Streich? Madeline hatte gesagt, die Polizei sei dort gewesen. Hinten im Laden hob Samantha den Kopf und warf Emma einen Seitenblick zu.
Ethan berührte Emmas Schulter. »Dein Gesichtsausdruck gefällt mir nicht«, sagte er. »Was denkst du gerade?«
»Das wirst du gleich sehen.« Lässig nahm Emma eine Clutch von Tori Burch vom Tisch. Als sie sich sicher war, dass Samantha sie gerade ansah, schob sie sich die Tasche unters T-Shirt. Das Leder fühlte sich auf ihrer nackten Haut seidenweich an.
»Was zum Henker …?« Ethan fuhr sich mit der Hand über die Kehle. »Bist du irre?«
Emma ignorierte ihn.
Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Es fühlte sich so fremd und so falsch an. Becky hatte früher oft im Supermarkt geklaut – hier einen Schokoriegel, dort eine Packung Kaugummi, die sie Emma in die Tasche geschoben hatte. Einmal war sie sogar mit zwei Zweiliterflaschen Cola aus dem Laden gelaufen, die sie sich wie zwei Atombusen unter die Bluse gestopft hatte. Emma hatte in ständiger Angst davor gelebt, dass die Polizei sie beide ins Gefängnis werfen würde – oder Becky ihre Tochter wegnehmen würde, was noch schlimmer gewesen wäre. Aber am Ende war es nicht die Polizei gewesen, die Emma ihre Mutter genommen hatte. Becky hatte ihre Tochter aus freien Stücken verlassen.
»Stehen bleiben!«
Emma erstarrte, die Hand am Türgriff. Samantha stand hinter ihr und riss sie grob herum. Ihre Augenbrauen waren zu einem perfekten V zusammengezogen. »Netter Versuch. Gib die wieder her.«
Seufzend nahm Emma die Hand vom Bauch und schüttelte ihr T-Shirt aus. Die Tasche fiel zu Boden und die goldene Kette daran klimperte auf dem Fliesenboden. Eine halb nackte Frau reckte den Kopf aus einer Umkleidekabine und schnappte nach Luft.
Samantha hob die Tasche mit einem süffisanten Grinsen auf und zog einen BlackBerry aus der Tasche ihrer hautengen Jeans. Sie schaltete den Lautsprecher ein.
»Warte!« Ethan raste mit wenigen Schritten um ein weinrotes Samtsofa herum und war bei ihnen. »Das ist ein Missverständnis. Ich kann
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