LYING GAME - Weg bist du noch lange nicht
aufsah, erschrak sie über die tiefe Sorge in den Gesichtern der Mercers. Den meisten ihrer Pflegeeltern wäre es völlig egal gewesen, dass sie beim Klauen erwischt worden war. Sie hätten sich nur aufgeregt, falls man von ihnen verlangt hätte, eine Kaution zu bezahlen. Wahrscheinlich hätten fast alle sie lieber im Gefängnis sitzen lassen. Sie verspürte Neid, weil Suttons Eltern sich um sie kümmerten – was ihre Schwester zu ihren Lebzeiten offenbar nicht zu schätzen gewusst hatte.
Mr Mercer wandte sich an Quinlan und sprach zum ersten Mal. »Es tut mir sehr leid, dass sie Ihnen solche Umstände macht.«
»Mir tut es auch leid.« Quinlan verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht sollten Sie Sutton in Zukunft besser im Auge behalten …«
»Wir achten sehr gut auf unsere Tochter, vielen Dank«, sagte Mrs Mercer mit schriller Stimme. Ihre abwehrende Haltung erinnerte Emma an die Besuche bei ihren Sozialarbeitern, bei denen alle Pflegeeltern ausnahmslos behauptet hatten, sie kümmerten sich hervorragend um die Kinder in ihrer Obhut, ob das nun stimmte oder nicht. Mrs Mercer suchte in ihrer Gucci-Handtasche nach ihrem Geldbeutel. »Müssen wir eine Strafe bezahlen?«
Quinlan räusperte sich verlegen, als habe er eine Mücke verschluckt. »Diesmal wird Geld wahrscheinlich nicht ausreichen, Mrs Mercer. Falls die Boutique sich dafür entscheidet, Anzeige zu erstatten, gilt Sutton als vorbestraft. Und möglicherweise gibt es auch noch weitere Konsequenzen.«
Mrs Mercer sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. »Was für Konsequenzen?«
»Wir müssen abwarten, was die Boutique unternehmen will«, antwortete Quinlan. »Sie könnten Schadensersatz verlangen oder auf eine härtere Strafe drängen, vor allem, weil Sutton schon vorher gestohlen hat. Vielleicht muss sie Sozialdienst leisten. Oder sie landet im Gefängnis.«
»Gefängnis?« Emma riss den Kopf hoch.
»Du bist jetzt volljährig, Sutton«, sagte Quinlan achselzuckend. »Willkommen in der Welt der Erwachsenen.«
Emma schloss die Augen. Sie hatte vergessen, dass sie gerade achtzehn geworden war. »A… aber was ist mit der Schule?«, murmelte sie dämlich. »Und mit dem Tennis?« Was sie wirklich fragen wollte, war: Was wird aus meinen Nachforschungen? Wer soll dann Suttons Mörder finden?
Die Tür knarrte, als Quinlan sie öffnete. »Daran hättest du denken müssen, bevor du dir diese Tasche unters T-Shirt gestopft hast.«
Quinlan hielt Emma und den Mercers die Tür auf und sie gingen auf den Parkplatz hinaus. Alle schwiegen und Emma wagte kaum zu atmen. Mrs Mercer führte Emma am Ellbogen zu ihrem wartenden Mercedes, den ein »Hollier-Tennis-Mom-und-stolz-darauf«-Aufkleber zierte.
»Bete darum, dass die Boutique die Anzeige fallen lässt«, knurrte Mrs Mercer durch zusammengebissene Zähne, als sie auf den Fahrersitz glitt. »Ich hoffe, du hast wenigstens etwas daraus gelernt.«
»Das habe ich«, antwortete Emma leise und in ihrem Kopf überschlug sich alles, was sie in der Akte gelesen hatte. Sie hatte ein neues Motiv und neue Hinweise entdeckt und von einer gefährlichen Situation erfahren, die selbst loyale Freundinnen zu Furien gemacht haben konnte.
9
Daddys kleines Mädchen
Auf der Heimfahrt vom Polizeirevier herrschte eisige, undurchdringliche Stille. Das Radio blieb ausgeschaltet. Mrs Mercer beschwerte sich nicht einmal über den aggressiven Fahrer, der sich vor ihr in die Spur drängelte. Sie starrte stur geradeaus wie eine Wachsfigur bei Madame Tussauds und sah das Mädchen auf dem Beifahrersitz, das sie für ihre Tochter hielt, kein einziges Mal an. Emma schaute auf ihren Schoß und zupfte so lange an der Nagelhaut ihres Daumens herum, bis ein winziger Blutstropfen über ihre Haut rann.
Mrs Mercer parkte in der Einfahrt hinter dem Acura ihres Mannes und alle stapften ins Haus wie aneinandergekettete Gefangene. Sobald sie das Haus betraten, sprang Laurel von der Ledercouch im Wohnzimmer auf. »Was ist denn los?«
»Wir müssen uns mit Sutton unterhalten. Alleine.« Mrs Mercer warf ihre Handtasche auf den Garderobenständer, der neben der Eingangstür Wache hielt. Drake, die dänische Dogge der Familie, sprang herbei, um sein Frauchen zu begrüßen, aber sie wehrte ihn ab. Drake war zwar kein Wachhund, sondern ein liebenswerter Einfaltspinsel, aber Emma fühlte sich in seiner Gegenwart immer noch nicht wohl. Sie hatte Angst vor Hunden, seit einmal der Chow-Chow von Pflegeeltern auf ihrem Arm herumgekaut hatte,
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