LYING GAME - Weg bist du noch lange nicht
dann mit müdem Gesicht an Sutton. »Ich habe auch gleich eine Aufgabe für dich. Zieh dich um, wir treffen uns in der Garage.«
Emma nickte gehorsam. Lasst die Strafe beginnen.
Zehn Minuten später stand Emma in einem T-Shirt und einem paar abgetragener Jeans – so abgetragen ein Paar Citizens of Humanity eben sein konnte – in der Dreiergarage der Mercers. Sie war von Regalen gesäumt, in denen sich Rechen, Schaufeln, Farbeimer und Säcke mit Hundefutter stapelten. In der Mitte des großen Raums stand auf dem Betonfußboden ein aufgebocktes altes Motorrad mit dem Schriftzug Norton auf dem Tank. Mr Mercer kniete neben dem Vorderreifen des Bikes und inspizierte den Reifen. Er trug weiße Knieschoner.
Als er Emma sah, richtete er sich halb auf und nickte ihr zu.
»Da bin ich«, sagte Emma ein bisschen verlegen.
Mr Mercer betrachtete sie ein paar lange Augenblicke lang. Emma wappnete sich für einen neuerlichen Sermon, aber er wirkte nur traurig.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie kannte nur das Gefühl, selbst enttäuscht zu sein, und es war ungewohnt für sie, jemand anderen enttäuscht zu haben. Emma hatte immer versucht, genau das zu sein, was ihre Pflegeeltern von ihr erwarteten – ein Kindermädchen, eine Putzfrau und einmal sogar eine Masseuse. Noch nie hatte sie absichtlich Ärger gemacht.
Mr Mercer wendete sich wieder dem Motorrad zu. »Hier sieht es unmöglich aus«, sagte er schließlich. »Du könntest mir helfen, alles Unnötige wegzuschmeißen und den Rest neu zu sortieren.«
»Okay.« Emma holte einen großen, schwarzen Müllsack aus einem Karton auf dem Regal neben sich.
Sie sah sich in der Garage um und stellte überrascht fest, dass sie und Mr Mercer einiges gemeinsam zu haben schienen. An einer Wand hing ein altes Poster einer geflammten Gibson Les Paul, Emmas Lieblingsgitarre aus ihrer »Ich will eine Band gründen«-Phase. Und links neben den Regalen mit Autopflegemitteln und Unkrautvernichter stand eins, dessen Bretter mit zerlesenen Taschenbuch-Krimis vollgepackt waren, von denen Emma viele bereits gelesen hatte. Sie fragte sich, warum sie nicht auf den Bücherregalen im Haupthaus standen. Schämte sich Mrs Mercer für den literarischen Geschmack ihres Ehemannes? Oder war es typisch für Dads, ihre Lieblingsdinge an einem Ort aufzubewahren, den nur sie frequentierten?
Emma hatte ihren eigenen Vater nie kennengelernt. Als sie im Kindergarten gewesen war, kamen einmal ein paar Väter zu Besuch in die Gruppe und erzählten den Kindern, was sie beruflich machten. Einer war Arzt gewesen, ein anderer Besitzer eines Musikgeschäftes, der dritte Koch. An jenem Nachmittag hatte Emma Becky gefragt, was ihr Vater eigentlich mache.
Beckys Gesicht verdüsterte sich, sie zog heftig an ihrer Zigarette und blies den Rauch durch die Nasenlöcher wieder aus. »Das ist egal.« »Kannst du mir seinen Namen sagen?«, versuchte es Emma weiter, aber Becky schwieg beharrlich. Kurz nach diesem Gespräch hatte Emma eine Phase, in der sie sich einbildete, die Männer, die sie auf ihren endlosen Reisen kennenlernten – Becky hielt es an keinem Ort besonders lange aus –, könnten vielleicht ihr Vater sein. Raymond, der Tankwart, der Emma bei jedem Einkauf ein paar Süßigkeiten zusteckte. Dr. Norris, der Notarzt, der ihr Knie verarztete, als sie auf dem Spielplatz gestürzt war. Al aus der Nachbarwohnung, der Emma jeden Morgen zuwinkte. Emma stellte sich vor, einer dieser Männer würde sie auf den Arm nehmen, durch die Luft wirbeln und in die nächste Milchbar ausführen. Aber das geschah nie.
Eine Flut an Erinnerungen durchströmte mich: Ich saß mit meinem Dad in einer Blueskneipe und hörte einer Band zu. Mein Dad und ich standen auf einem Wanderweg und beobachteten Vögel mit unseren Ferngläsern. Ich war vom Fahrrad gefallen und ins Haus gerannt, um mich von meinem Dad trösten zu lassen. Mich beschlich das Gefühl, dass mein Dad und ich irgendwann eine sehr enge Beziehung gehabt hatten. Und wenn ich mir Emmas bisheriges Leben so ansah, empfand ich es plötzlich als großes Glück, diese Erinnerungen zu haben. Aber jetzt wusste mein Vater nicht einmal, dass ich nicht mehr da war.
Emma beugte sich über das Motorrad und studierte es gründlich.
»Warum ist der Schalthebel auf der falschen Seite?«
Mr Mercer blinzelte, als hätte Emma auf einmal Kisuaheli gesprochen. »Das ist nicht die falsche Seite. Das ist ein britisches Motorrad und vor 1975 war der Schalthebel immer rechts.« Er lachte
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