Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
glitt zum Schlossgarten hinab, hin zu den gestutzten Hecken und dem imposanten Springbrunnen, in dessen Mitte ein steinerner Poseidon aufragte. Er hielt einen Dreizack in der Rechten und streckte ihn gen Himmel, als wollte er die Wolken aufspießen.
Ihr Blick wanderte weiter und fiel auf einen Mann mit schwarzen, wehenden Haaren, gehüllt in eine ebenso dunkle Kutte, der unter ihrem Fenster stand und zu ihr hinaufsah. Joli torkelte erschrocken einen Schritt zurück.
Remierre.
Nein, das konnte nicht sein. Er konnte unmöglich hier sein. Sie legte die Hand auf ihre Stirn. Er existierte nur in ihren Träumen, er war eine Wahnvorstellung manifestiert aus ihren Sehnsüchten. Oder vielleicht auch nicht. Sie spürte noch immer einen Funken Hoffnung in sich, dass er kein Hirngespinst und alles nur ein schrecklicher Alptraum war, aus dem sie bald erwachen würde. Vorsichtig lugte sie noch einmal durch die Scheibe, nur für einen winzigen Moment. Der Moment genügte. Er war noch immer dort unten, als wartete er auf sie.
Genau wie Ellis Werwolffreund, der auch nicht existierte.
Joli drehte sich um und ging dann erst langsam, dann immer schnelleren Schrittes aus ihrem Zimmer in den Gang, wo sie Schwester Ivonne in die Arme lief, die ihre Abendkontrolle durchführte.
„Frau Balbuk, zurück in Ihr Zimmer! Ich möchte endlich Feierabend machen.“
„Ich ... muss ... zu Dr. Freck!“
„Sie müssen jetzt schlafen!“ Der feste Griff der Schwester an ihren Schultern versetzte Joli in Panik.
„Schlafen? Nein. Ich muss ihn sprechen“, rief sie und riss sich mit aller Kraft los. Dass sie Rem gesehen hatte, dass er so real aussah und dieses Gefühlschaos in ihr auslöste, könnte bedeuten, dass sie einen Rückfall erlitt. Ein Strudel widersprüchlicher Gefühle machte es ihr unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen, in diesem Moment schien es das klügste zu sein mit Dr. Freck darüber zu sprechen.
„Frau Balbuk, bleiben Sie hier!“, schimpfte Schwester Ivonne, aber Joli hatte längst die Beine in die Hand genommen und stürmte durch den Flur.
Rasant bog sie um die Ecke und sprintete die letzten Meter zum Büro des Doktors. Dort angekommen trommelte sie gegen seine Tür.
„Doktor, sind Sie da? Ich muss mit Ihnen sprechen, es ist dringend. Bitte.“
Vermutlich befand er sich längst auf dem Heimweg, wie jeder normale Mensch um diese Uhrzeit, der keine Nachtschicht hatte.
„Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, schimpfte Schwester Ivonne, die Joli schließlich eingeholt hatte und erneut nach ihrer Schulter griff. Eine merkwürdige Frage an eine Patientin in einer Nervenheilanstalt. „Dr. Freck ist nicht mehr im Haus. Was ist denn überhaupt passiert?“
In diesem Moment ging zu ihrer beider Erstaunen die Tür auf und Freck blickte verwirrt von der einen zur anderen.
„Was ist denn hier draußen los? Woher kommt dieser Lärm?“
Er sah anders aus als vorhin. Sein Gesicht hatte eine gesunde Farbe angenommen und seine Statur wirkte kräftiger.
„Wenn ich das wüsste, Herr Doktor, aber die Patientin redet nicht mit mir“, sagte Ivonne verärgert.
Joli fiel ihr ins Wort. „Ich habe ihn gesehen. Sie müssen mir glauben, Doktor. Ich bin nicht verrückt, aber ich habe ihn wirklich gesehen!“
Freck wedelte wirsch mit der Hand vor dem Gesicht der Schwester herum, bevor er sich Joli zuwandte. „Wen haben Sie gesehen?“
„Den ...“ Ihr Atem stockte als sich in ihrer Brust ein Schmerz ausbreitete. Sie legte ihre Hand auf die Stelle über ihrem Herzen und starrte ins Leere. Im Flüsterton fuhr sie fort. „Werwolf.“
Dr. Freck nickte verstehend, kratzte sich am Kinn und winkte die Schwester mit der gleichen Handbewegung fort. „Gehen Sie schon, gehen Sie.“
„Natürlich“, sagte Ivonne hastig, beinahe unterwürfig, und trat den Rückzug an.
„Und Sie folgen mir ins Büro, Frau Balbuk, es wird alles gut, beruhigen Sie sich“, wies er an und machte eine einladende Handbewegung.
Joli nickte, betrat das Sprechzimmer und setzte sich. Die Vorhänge verdeckten nicht länger die Fenster. Dunkle Wolken zogen über den schwarzen Nachthimmel. Es waren kaum Sterne zu sehen. Wie so oft in den letzten Tagen kam sie sich plötzlich albern vor. Hier in diesem Zimmer in der Gegenwart dieses nüchternen Nervenarztes war sie sich unsicher, ob sie sie sich die Erscheinung nicht nur eingebildet hatte.
„Es ist ein Rückfall, nicht wahr?“ Sie ließ kraftlos die Schultern hängen. „Vielleicht sollte ich doch
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