Lyon - A.M.O.R. 01
Nacken und suchte im Sternenhimmel nach Antworten auf Fragen, die ihn quälten.
Tehlic betrachtete die gefesselte Menschenfrau. Zierlich, hübsch, schwach. Um die gab es so einen Wirbel? Ohne ihren Aufpasser hätte er sie sicher schneller im FAL gehabt. Nun blieb ihm nicht mehr viel Zeit, um menschliches Blut kurz vor der Wandlung abnehmen zu lassen.
„Mach schneller“, forderte er Aaron auf, als dieser ihm eine Ampulle ihres Blutes reichte. „Wir brauchen genug. Ihr Blut ist eine Kostbarkeit.“
„Natürlich“, versicherte Aaron, „aber sie könnte sterben, wenn ich …“
„Sie wird zum Feind!“, donnerte Tehlic, „so schnell sterben die nicht!“
„Vier …“
„Was?“ Tehlic beugte sich über das blasse Gesicht mit den durch das Fieber schweißverklebten Haaren. Sie fantasierte.
Die Frau schlug die Augen auf. Dunkelblaue Seen wollten ihn näher ziehen. Tehlic wich zurück.
„Lyon … Hilfe … Bin ein Amor…“
Tehlic schlug auf die Behandlungspritsche. Er warf Aaron noch einen Blick zu, der eindeutig besagte, dass er keinerlei Fehler duldete und Gehorsam verlangte. Dann verließ er den beengenden Raum.
Rasch schwebte er unsichtbar durch die unendlichen Flure seines FALs. Zu dieser Form war seines Wissens nach niemand mehr imstande. Nebel … pah! Er war wie ein Geist, seine Magie war jedem weit überlegen, weil er regelmäßig Amorphenblut trank. Er hatte seine Stärke zurückgewonnen, die allen anderen hingegen schleichend abhandengekommen war. Niemand ahnte von seiner Verschwörung, bei der er seit Jahrhunderten im Hintergrund die Fäden zog, und natürlich durfte niemand wissen, welche Macht ihm innewohnte. Was oftmals sehr schade war, aber noch war der Zeitpunkt nicht gekommen, es die Welt wissen zu lassen. Aber bald. Sehr bald.
Seine magyce Kraft befand sich auf dem Höhepunkt, das spürte er. Das, was die Frau eben gesagt hatte … Tehlic ließ sich von seinen Sinnen leiten, ließ seine Gedanken kreisen, Geist und Seele fließen und folgte seinem Unterbewusstsein, bis er wusste, wohin es ihn führte.
Zu dem Schriftstück, das ihn um 1290 herum erst auf die Idee brachte, Magycen könnten den Amorphen ähnlich sein. Damals ein abwegiger und verhasster Gedanke, der erst Bedeutung gewann, als Aaron Neff als Ergebnis einer Versuchsreihe behauptete, Amorphenblut würde kurz vor dem Tod stehende Magycen kurzfristig stärken. Bis dahin war es ein weiter und komplizierter Weg gewesen. Seinen Vater Gaudor um 1300 zu überreden, ein Gesetz zu erlassen, das jeglichen Kontakt zu Amorphen verbot, war dagegen ein Kinderspiel. Sein Plan gedieh.
Tehlic erreichte die unterste Ebene des FALs. Hier war vor Jahrhunderten mit inzwischen längst veralteter Technik geforscht worden, die Räume eher grob in den Fels gehauen. Der steigende Wasserstand des Meeres hatte im Laufe der Zeit die untersten Bereiche des Komplexes unbrauchbar gemacht. Man hatte alles verfallen lassen, es gab nicht einmal Licht. Er hatte Aaron hier Dekaden mit wichtigen Informationen, gesammelten Werken, Überlieferungen aus vergangenen Tagen, Schriften aus Klosterbibliotheken, Dokumenten aus alten Königshäusern, Fundstücken aus verfallenen Ruinen, Hinterlassenschaften aus geheimen Kellern oder privaten Kommoden verbringen lassen, um den Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen.
Tehlic nahm Gestalt an und schnippte mit den Fingern.
Eine blass schimmernde Kugel schwebte aus den düsteren Tiefen der flachen Höhle zu ihm und senkte sich auf seiner Hand nieder. Er ritzte sich mit einem Reißzahn in den Daumen und öffnete mit seinem Blut die sichere Verwahrungskugel. Eingehend betrachtete er die handgroße, mit silbernen Ornamenten verzierte Truhe. Er öffnete den halbrunden Deckel – leer.
Damals, 1290, hatte er das darin befindliche Schriftstück betrachtet, die Worte AMOR… und Ma… entziffern können, bis es zwischen seinen Fingern zu Staub zerfiel. Er hätte es nicht berühren dürfen, aber es hatte den entscheidenden Gedankengang bei seinem wirklich intelligenten und hochbegabten Wissenschaftler Aaron ausgelöst, der ihm über die Jahre des Forschens das Geheimnis der Verbundenheit ihrer Spezies entlockte.
Tehlic untersuchte die Schatulle eingehend und tastete sie sorgfältig ab, als plötzlich ein paar Vertiefungen auf dem Deckel matt zu leuchten begannen und im nächsten Moment wieder erloschen. In heller Aufregung streichelte er den Deckel erneut, rieb ihn, küsste ihn, schüttelte ihn schließlich.
Weitere Kostenlose Bücher