Lyon - A.M.O.R. 01
beängstigende Verwirrung konnte. Einer Eingebung folgend wandte Adina sich abrupt in die entgegengesetzte Richtung und entdeckte dabei eine Tür in der Wand, die vormals von dem dunkelroten Bettvorhang verdeckt gewesen sein musste. Oder ihre Sinne schärften sich von Stunde zu Stunde, denn die schmale Ritze, die den Türbogen erkennen ließ, wäre ihr sicher aufgefallen. Ein Knauf oder eine Klinke fehlte. Ihr Instinkt sagte, dahinter lauerte eine Antwort. Diese Vermutung verstärkte ihr Unwohlsein, doch sie wäre nicht sie, wenn sie dem nicht auf der Stelle auf den Grund gehen würde. Mit wenigen Sätzen stand sie vor der verborgenen Tür, legte die Finger auf das glatte Material und es fuhr geräuschlos beiseite.
„Nein! Nicht!“
Lyons Aufbrüllen dröhnte durch das Schlafzimmer und hallte in dem düsteren Treppenhaus hinter der Tür hohl wider. Adina strauchelte erschrocken vorwärts. Ihre zitternden Hände fanden Halt an einem staubigen Geländer. Es roch abartig nach Verwesung und vermodertem Holz. Beißender Blutgeruch schien die trübe Luft zu ersticken. Ein Flur verlief im Oval, verschlossene Türen verheimlichten die dahinterliegenden Räume, eine Treppe wand sich wie eine Doppelhelix hinauf und hinab. Das Ende der Treppe verschwand in der Finsternis, doch ein eisiger Hauch trug blankes Entsetzen zu ihr herauf.
Adinas Lider flatterten. Sie kannte das nahende Gefühl einer Vision, doch sie hatte keine Kontrolle über sie.
Ihr Blick nahm unfassbares Grauen wahr. Unzählige Körper lagen überall, blass und bewegungslos. Die Gesichter erstarrt, aber makellos. Das lange Haar wie Fächer, Kleidung aus längst vergangener Zeit. Ein Amorph ruhte nah. Sanftmütig wie im Schlaf. In Livree eines Faktotums, untadelig, fein, aber ein kleiner Stich unterhalb des Halses in der Brust störte das friedliche Bild. Rote Dunstschleier stiegen aus dem Schlitz auf wie der verblichene Atemhauch von Amorphenblut.
Adina riss die Augen auf, als Lyons Hände ihre Schultern packten und sie zurück ins Schlafzimmer zerrten. Die Vision verblasste. Keine Leichen säumten mehr den verrotteten Flur. Die Schiebetür rauschte zu. Lyons wutschnaubendes Grollen nahm sie jedoch kaum wahr. Sie ahnte, wo sie sich befanden, was sie gesehen hatte. Den Tod, den Lyon verursacht hatte, der Tod, der auch auf sie lauerte. Nur ein Wort hämmerte sich in ihren Schädel wie mit einem Presslufthammer: Freiheit! Panik wühlte sie auf. War das ihre Zukunft? Sie hatte sich doch erst vor Jahren von beinahe tödlichen Fesseln befreit. Niemals wieder könnte sie zulassen, sich erneut welche anlegen zu lassen. Kopflos, den Horror vor Augen, suchte sie das Zimmer ab, schnaufte, zutiefst verunsichert, nicht nur wütend auf Lyon.
Er hob das Seidenbettlaken auf und hielt es ihr entgegen. Die Geste wäre an sich süß gewesen … wäre da nicht das grauenvolle Erlebnis und sein Gesichtsausdruck, der besagte, sie würde keine weiteren Antworten von ihm erhalten und das, was sie gesehen hatte, war die absolute unumstößliche Realität. „Ich will meine eigenen Sachen.“
„Du bist hier sicherer.“
Sie lachte auf, sah die Leichen vor ihrem inneren Auge, den verloren gegangenen Kampf gegen eine brutal mordende Übermacht. „Ich bin hier in der Hölle. Du verschwindest wieder, ich sehe es dir an. Und ich werde nicht allein rumsitzen und auf irgendeine Katastrophe warten.“ Und dich vermissen.
„Ach shit.“
Sie hasste sich für das, was sie tat. Er hatte keine Chance, es richtig zu handhaben. Das seltsame Fieber wütete in ihr, ihr Herz schmerzte, löste Ängste aus, die ihr die Kehle zuschnürten. Die Zeit als Mensch lief ihr davon. Geschärfte Sinne, bizarre Gelüste, Todesvisionen … Das Gefühl, sich nicht im Griff zu haben, manipuliert zu werden, sich nicht mehr zu kennen, würgte sie. Das Schicksal ruhte nicht mehr in ihrer eigenen Brust, es stahl ihr die einzige Person, der sie je wirklich vertraut hatte – sie selbst. Sie musste hier raus.
Die Stille dehnte sich aus wie gefrierendes Wasser in einem dünnwandigen Glas. Zum Zerspringen gespannt, wie ihre innere Verfassung. Die sensuelle Stimmung war einem beängstigenden Vakuum gewichen. Sie war sich sicher, er würde sie nicht ohne Weiteres gehen lassen. Das machte ihr noch mehr Angst. „Ich will in mein Leben zurück. Jetzt.“ Es klang kindisch.
Er drehte sich von ihr weg. Seine Rückenmuskeln arbeiteten, ein bedrohliches Knurren erfüllte das Zimmer. „Nein, es ist zu gefährlich. Du
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