Lyonesse 2 - Die grüne Perle
süße Glyneth! Du kommst, wie es sich für eine brave Jungfer schickt!« Er streckte die Arme nach ihr aus; Glyneth stieß ihm mit beiden Händen feste gegen die schmale Brust, so daß er zurücktaumelte, die Lippen zu einem großen runden O der Verblüffung stülpend. Glyneth packte den Ranzen und zog blitzschnell den Dolch heraus. Als Vishbume, immer noch um sein Gleichgewicht ringend, ihr wieder entgegengetaumelt kam, stieß sie zu. Ihr Arm wurde abgelenkt; der Dolch drang in Vishbumes linke Wange, quer durch seinen Mund, und kam zur rechten Wange wieder heraus. Es war ein magischer Dolch: nur die Hand, die ihn gestoßen hatte, konnte ihn wieder herausziehen. Vishbume stimmte ein gackerndes Schmerzgeheul an und drehte sich im Kreise; Glyneth raffte den Ranzen an sich und rannte, so schnell ihre Beine sie trugen, den Abhang hinunter zum Flußufer. Hundert Schritte weiter flußabwärts erspähte sie den Bootssteg. Vishbume kam in langen Sätzen hinter ihr her gerannt; der Dolch ragte noch immer aus seiner Wange.
Glyneth rannte zu dem Anlegesteg und sprang in das Boot. Der Fischer, der immer noch mit seinem Spaten im Uferschlamm herumgrub, schrie wütend: »Halt! Laß die Finger von meinem Boot! Fort mit euch und euren dummen Streichen!«
Die Sprache, die der Mann sprach, war gänzlich fremd, aber aufgrund ihrer magischen Sprachbegabung konnte Glyneth jedes Wort verstehen, so als wäre es ihre eigene Sprache; ungeachtet der wütenden Proteste des Fischers machte sie die Leine los und stieß das Boot vom Ufer ab – just in dem Moment, als Vishbume auf den Steg gerannt kam. Er schwenkte wild die Arme und versuchte, ihr etwas zuzurufen, aber der Dolch behinderte seine Zunge, und seine Worte waren kaum zu verstehen! »... mein Ranzen! ... Glyneth! Komm zurück; du weißt nicht, was du tust! ... Die Löcher zu unserer Welt! Wir kommen nie mehr zurück!«
Glyneth hielt nach Rudern Ausschau, fand jedoch keine. Das Boot wurde von der Strömung gepackt und trieb flußabwärts. Vishbume rannte am Ufer neben ihr her, mit unverständlicher Stimme Anweisungen und flehentliche Bitten aus seinem verstümmelten Mund hervorgurgelnd, bis schließlich ein kleiner Nebenfluß ihm den Weg abschnitt, so daß er stehenbleiben und tatenlos zusehen mußte, wie Glyneth mitsamt seinem Ranzen langsam davontrieb und schließlich seinen Blicken entschwand.
Wenig später stieß Vishbume auf ein Fährboot; die Fährmänner, zwei grobschlächtige, sture Kerle verlangten bare Münze für die Passage. In Ermangelung einer solchen sah Vishbume sich gezwungen, die Silberschnalle an seinem Schuh als Entgelt für die Überfahrt herzugeben.
An der Anlegestelle am anderen Ufer entdeckte Vishbume eine Schmiede. Nachdem er zähneknirschend seine zweite und letzte Silberschnalle auf den Tisch gelegt hatte, sägte der Schmied den Griff des Dolches ab, packte die Spitze mit einer Zange und zog unter Vishbumes gellendem Schmerzensgeheul die Klinge aus der Wange heraus.
Aus einer Tasche in seinem bauschigen Ärmel holte Vishbume ein rundes weißes Döschen hervor. Er klappte den Deckel auf und schüttelte ein Kügelchen aus einer wachsartigen gelben Substanz heraus. Unter tiefen Seufzern der Erleichterung rieb er sich die Substanz auf die Wunden; sofort ließ der Schmerz nach, und die Schnitte schlossen sich und verheilten. Er klappte den Deckel des Döschens wieder zu und steckte es in die Tasche in seinem Ärmel zurück; die Bruchstücke des Dolches ließ er in eine Tasche an der Seite seiner Hosen gleiten. Dann machte er sich wieder an die Verfolgung Glyneths.
Nach kurzem Marsch erreichte er wieder das Ufer des Hauptflusses. Das Boot war längst außer Sicht.
II
Das Boot trieb langsam den Fluß hinunter; links und rechts glitten die Uferböschungen vorüber. Glyneth saß starr und steif, erfüllt von der Angst, das Boot könne aus irgendeinem Grund plötzlich umkippen, und sie hatte wahrlich kein Verlangen danach, die Tiefen dieses dunklen Flusses zu erkunden. Sie blickte traurig über die Schulter; mit jeder Sekunde entfernte sie sich weiter von der Hütte und dem Schlupfloch, das sie zurück in den Wald und nach Hause bringen würde. Sie versuchte, sich Mut zu machen: »Meine Freunde werden mir helfen!« Ganz gleich, was auch geschah, sie mußte sich an dieseÜberzeugung klammern – weil sie wußte, daß sie richtig war.
Ein neuer, nicht minder erschreckender Gedanke schoß ihr durch den Kopf: was, wenn sie Hunger und Durst bekommen würde?
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