Lyonesse 2 - Die grüne Perle
»reichen zwanzig entschlossene Männer aus, den Weg gegen ein ganzes Heer zu halten. Aber wie ich hörte, türmt sich dortselbst nunmehr Feste über Feste, ist jeder Zugang durch Fallen, Wälle und Wachttürme abgesichert, so daß die Unbezwingbarkeit gleich um das Zwölffache gewährleistet ist. Ähnlich ist's bei Tintzin Fyral, wo jetzt den Berg Tac Tor eine Festung krönt, welche an Rauheit Tintzin Fyral selbst in nichts nachsteht. Ich kann diese fieberhaften Vorkehrungen nicht verstehen, haben wir doch zwischen uns Verträge ratifiziert, die solche Maßnahmen überflüssig machen.«
»Eure Informationen sind richtig«, bestätigte Aillas. »Die Befestigungsanlagen sind verstärkt worden, und zweifellos richten sie sich gegen einen Einfall aus Lyonesse. Aber leuchtet Euch der logische Grund nicht ein? Ihr seid nicht unsterblich; stellt Euch doch einmal vor, ein grausamer, verräterischer und kriegslüsterner Monarch käme eines Tages in Lyonesse an die Macht! Nehmen wir einmal an, dieser Monarch beschlösse, aus Gründen, die außerhalb unserer Vorstellungskraft liegen, in Süd-Ulfland einzumarschieren – nun also! Wir sind gegen ihn gerüstet, und wenn er bei Sinnen ist, wird er von solcher Narretei ablassen.«
Casmir zeigte ein frostiges Lächeln. »Ich konzediere durchaus eine theoretische Basis für einen solchen Gedankengang, aber scheint er nicht doch – in der Praxis – ziemlich an den Haaren herbeigezogen?«
»Das will ich doch sehr hoffen«, sagte Aillas. »Darf ich Euch noch ein wenig von diesem Wein einschenken? Er wird auf meinem eigenen Landsitz gekeltert.«
»Danke; er ist in der Tat vorzüglich. Die Weine aus Troicinet sind auf Haidion nicht so bekannt, wie sie es sein sollten.«
»Das freilich ist ein Mangel, der sich leicht abstellen läßt. Ich werde mich persönlich darum kümmern.«
Casmir erhob seinen Pokal, schwenkte den Wein darin herum und betrachtete mit nachdenklicher Miene das goldene Wellenspiel. »Es fällt schwer, sich die bitteren alten Zeiten in Erinnerung zu rufen, da böses Blut zwischen unseren Völkern herrschte.«
»Alle Dinge verändern sich«, sagte Aillas.
»Wie wahr! Unser Vertrag, unterzeichnet in der Hitze aufgewühlter Gefühle, legte fest, daß Lyonesse keine Kriegsschiffe bauen darf – auf der Basis einer Annahme, welche inzwischen überholt ist. Nun, da Freundschaft zwischen unseren Völkern herrscht ...«
»Ganz recht!« erklärte Aillas. »Das gegenwärtige Gleichgewicht hat uns allen bisher gutgetan! Es ist ein Gleichgewicht, das den Frieden auf den Älteren Inseln gewährleistet. Diese Ausgewogenheit der Kräfte und dieser Friede sind lebenswichtig für uns und bilden die Grundlage unserer Außenpolitik.«
»Oh?« König Casmir runzelte die Stirn. »Und wie könnt Ihr eigentlich eine so umfassende Politik durchführen?«
»Das Prinzip ist denkbar einfach. Wir können weder Lyonesse noch Dahaut gestatten, ein Übergewicht über den andern zu gewinnen, weil dann unsere eigene Sicherheit verlorenginge. Sollte König Audry Lyonesse angreifen und durch irgendein Wunder die Oberhand erringen, dann müssen wir an der Seite Lyonesses in den Krieg eintreten, bis das Gleichgewicht wiederhergestellt ist; dasselbe gilt
vice versa
.«
Casmir zwängte sich ein lustloses Lachen ab, leerte seinen Pokal und stellte ihn auf den Tisch. »Ach, könnte ich meine eigenen Ziele auch so leicht definieren! Doch leider hängen sie von solch unbeschreiblichen Erwägungen wie Gerechtigkeit, der Wiedergutmachung von alten Ungerechtigkeiten und dem Hin und Her der Geschichte ab.«
Aillas schenkte Casmir neu ein. »Ich beneide Euch wahrlich nicht um Euer Labyrinth von Ungewißheiten. Bezüglich Troicinets braucht Ihr gleichwohl keine Zweifel zu haben: Sollte entweder Lyonesse oder Dahaut so stark werden, daß es für den andern eine Bedrohung darstellt, dann müssen wir unsere Kraft hinter den schwächeren werfen. In der Tat genießt Ihr den Schutz einer starken Seestreitmacht, ohne die enormen Unkosten auf Euch laden zu müssen, die der Unterhalt einer solchen verschlingt.«
König Casmir erhob sich und sagte mit einer gewissen Schroffheit: »Ich bin müde nach der langen Reise und wünsche Euch jetzt einen guten Abend.«
Aillas erhob sich ebenfalls. »Ich hoffe, Ihr werdet angenehm ruhen.«
Selbzweit begaben sie sich in den Salon, wo Königin Sollace mit Damen beider Höfe beisammensaß. König Casmir blieb im Türrahmen stehen und verbeugte sich steif vor den Insassen
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