Lyonesse 2 - Die grüne Perle
würdet Euch lästig machen. Er sagte, wenn nicht Murgen wäre, hätte er Euch schon lange auf die Rückseite des Mondes geschickt, rittlings auf einem Sägebock sitzend. Er sagte, er würde sich freuen, wenn ich Euch betöre und berausche, bis Eure Augen wie hartgekochte Eier aussähen und Ihr beim Frühstück vor Erschöpfung mit dem Gesicht in den Haferschleim fallt. Er sagte, Ihr hättet einen Verstand von niederem Rang und könntet nicht mehr denn einen Gedanken auf einmal fassen, und wenn ich in Trilda wäre, würdet Ihr an nichts anderes mehr denken und Euer Wühlen gegen ihn völlig vergessen. So, nun wißt Ihr alles.«
»Interessant.« Shimrod schaute verdrießlich über das Wasser. »Ich frage mich, welche Verleumdungen weitere fünf Minuten noch gebracht hätten.«
Melancthe trat einen Schritt zurück. »Nun denn, hier bin ich. Was ist nun? Soll ich fortgehen? Befragt die im Widerstreit liegenden Teile Eures Hirns, und vielleicht werdet Ihr einen Ratschluß finden.«
»Ich habe bereits entschieden«, erklärte Shimrod. »Ihr sollt mit mir nach Trilda kommen.« Und mit grimmigem Nachdruck fügte er hinzu: »Dort wird sich zeigen, wer wen auf höchst bemerkenswerte Weise ablenkt, und Tamurello wird jeden Morgen eine fröhliche Begrüßung erhalten ... Seht den abnehmenden Mond; er geht bereits im Westen unter. Es wird Zeit, daß wir nach Trilda zurückgehen.«
Schweigend begaben sich die zwei auf den Weg zu Shimrods Haus, und wie sie so dahinschlenderten, kam Shimrod plötzlich ein höchst beunruhigender Gedanke: War dieses Geschöpf, das da neben ihm herging und das den Namen Melancthe benutzte, womöglich die Tarngestalt für einen andren, einen von gänzlich verschiedener Art, welcher sich in irgendeinem heiklen Moment in seiner wahren Formenthüllte und Shimrod für seine freche Überwachung bestrafte?
Der Gedanke war auf den ersten Blick nicht unwahrscheinlich. Zum Glück könnte er den Trick sogleich entlarven.
Im Salon angekommen, schenkte Shimrod zwei Kelche Granatapfelwein ein. »Der Geschmack ist – wie Ihr selbst – zugleich süß und herb, geheimnisvoll und keineswegs eindeutig ... Kommt! Ich will Euch Trilda zeigen.«
Als erstes führte Shimrod sie in das Speisezimmer (»Das Eichenholz stammt von einem Baum, der genau an dieser Stelle stand.«), sodann geleitete er sie durch den offiziellen Salon (»Beachtet die Wandteppiche in den Zierrahmen; sie wurden im alten Parthien gewoben.«) und schließlich ins Arbeitszimmer, wo Shimrod sofort zum Tisch trat und einen Blick auf seine Landkarte warf. Der blaue Lichtpunkt glomm in Faroli, hoch im Norden in Dahaut: mithin war sein Verdacht widerlegt, daß die Frau an seiner Seite vielleicht eine Tarngestalt des zwiegeschlechtlichen Tamurello war; dies war eindeutig nicht der Fall.
Melancthe sah sich ohne großes Interesse um. Shimrod erläuterte die Herkunft einiger seiner Möbelstücke und führte sie alsdann vor einen hohen Spiegel, der ihre Erscheinung getreu reflektierte. Damit war ein weiterer Zweifel ausgeräumt: wäre sie eine Sukkuba oder eine Harpyie gewesen, so hätte der Spiegel das wahre Abbild der Kreatur zurückgeworfen.
Melancthe studierte das Glas mit großem Interesse. Shimrod erläuterte: »Der Spiegel ist von magischer Natur. Ihr seht in ihm die Person, die Ihr zu sein glaubt. Oder Ihr könnt sagen: ›Spiegel, zeig mich so, wie ich Shimrod erscheine!‹ Oder: ›Spiegel, zeig mich so, wie mich Tamurello sieht!‹ Und sofort werdet Ihr diese Versionen von Euch im Spiegel erblicken.«
Melancthe entfernte sich von dem Spiegel, ohne die Proben anzustellen, die Shimrod vorgeschlagen hatte. Shimrod musterte den Spiegel von der Seite. »Ich könnte mich leicht vor den Spiegel stellen und sagen: ›Spiegel, zeig mich so, wie Melancthe mich sieht!‹ Aber offen gestanden fehlt mir der Mut.«
»Laßt uns diesen Raum verlassen!« bat Melancthe. »Er riecht nach Intellekt.«
So kehrten die beiden in den kleinen Salon zurück, wo Shimrod ein Feuer im Kamin entfachte. Dann drehte er sich um und studierte Melancthe.
Sie sprach mit ihrer leisen sanften Stimme: »Ihr seid ernst und nachdenklich. Warum?«
Shimrod schaute hinunter in die Flammen. »Ich befinde mich in einer Zwickmühle. Habt Ihr Lust, es zu hören?«
»Ich werde Euch zuhören, gewiß.«
»Vor wenigen Wochen erst suchte Shimrod Melancthe in Ys auf, um ihre Bekanntschaft aufzufrischen und vielleicht irgendeine Gemeinsamkeit der Interessen zu entdecken, welche beider Leben
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