Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lyonesse 2 - Die grüne Perle

Titel: Lyonesse 2 - Die grüne Perle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Vance
Vom Netzwerk:
das Sternbild
Ursa Major
: stets oben, bei Tag wie bei Nacht. Auch wußte Shimrod von einem Zauber, der die gleiche Wirkung herbeiführte und der gemeinhin als ›der Phönix‹ bekannt war.
    Aus verschiedenen Gründen lehnte Shimrod es indes ab, zu solchen Hilfsmitteln Zuflucht zu nehmen. Erstens nahm Melancthe bereits ohnedies mehr von seiner Zeit in Anspruch, als ihm lieb war, und saugte dabei einen beträchtlichen Teil seiner Energie auf, was zur Folge hatte, daß er sich oft in einem Zustand der Schlaffheit befand und zu einer gewissen Flüchtigkeit neigte, was die Überwachung Tamurellos anbelangte. Zweitens – und dies war ein Nebeneffekt, den Shimrod niemals hätte vorausahnen können – verloren die schmucklosen Vereinigungen, denen es an Humor, Einklang und Anmut mangelte, in zunehmendem Maße an Reiz. Drittens beschlich ihn bisweilen der Verdacht, daß er Melancthes Erwartungen nicht gerecht wurde, sowohl in bezug auf Qualität als auch in bezug auf Quantität. Shimrod verwarf diesen Gedanken jedesmal stolz: Was für seine anderen Liebespartnerinnen gut genug gewesen war,mußte auch für Melancthe zur Befriedigung hinreichen.
    So verging ein Monat und nach ihm ein weiterer. Jeden Morgen, nach einer oder mehreren erotischen Verrichtungen, verzehrten Shimrod und Melancthe in aller Gemächlichkeit ein ausgiebiges Frühstück aus Haferbrei mit Sahne und frischen roten Johannisbeeren oder frisch gebackenen Plätzchen mit Butter, eingemachten Kirschen oder Honig oder auch mit Schinken, Brunnenkresse und weichgekochten Eiern, und gewöhnlich aßen sie dazu entweder ein halbes Dutzend gegrillte Wachteln oder ein paar frische Forellen oder pochierten Lachs in Dillsoße; dazu gab es stets frisches Brot, frische Milch und Beeren. Ein Paar bleicher Falloys 12 bereitete und servierte das Mahl und räumte die schmutzigen Teller, Tassen und Tranchierbretter ab.
    Nach dem Frühstück begab sich Shimrod für gewöhnlich in sein Arbeitszimmer. Oft döste er aber auch eine oder zwei Stunden auf dem Ruhebett, während Melancthe auf der Wiese spazierenging. Manchmal setzte sie sich auch in den Garten und zupfte die Saiten einer Laute. In den Tönen, die sie dabei erzeugte, vermochte Shimrod kein Muster zu entdecken; Melancthe indes schien Gefallen an den Klängen zu finden.
    Nachdem zwei Monate verstrichen waren, fand Shimrod ihre Launen noch immer gleichermaßen rätselhaft wie am Tag ihrer Ankunft. Er verfiel in die Gewohnheit, sie verstohlen zu beäugen. Diese Unart schien sie offenbar zu ärgern, und eines Morgens, als er sie wieder einmal mit gerunzelter Stirn aus dem Augenwinkel musterte, verzog sie plötzlich mißmutig das Gesicht und sagte ungehalten: »Ihr beobachtet mich, wie ein Vogel ein Insekt betrachtet: warum tut Ihr das?«
    Shimrod, so unvermittelt ertappt, brauchte einen Moment, um seinen Witz wiederzufinden. »Hauptsächlich beobachtete ich Euch aus schierem Vergnügen! Ihr seid zweifellos das schönste Geschöpf, das auf Erden lebt!«
    Melancthe murmelte, mehr an sich selbst als an Shimrod gerichtet: »Lebe ich denn? Vielleicht bin ich ja nicht einmal wirklich.«
    Shimrod erwiderte in einer spitzfindigen Manier, die Melancthe ebenso ärgerte: »Ihr seid sehr wohl lebendig; andernfalls wäret ihr tot, und ich wäre ein Leichenschänder. Das ist jedoch nicht der Fall; folglich lebt Ihr. Und wenn Ihr nicht wirklich wärt, dann fänden Eure Kleider«, – Melancthe trug jetzt lohfarbene Bauernhosen und einen gleichfarbigen Kittel –, »keinen Halt und fielen zu einem Haufen zusammen. Seid Ihr beruhigt?«
    »Warum hat dann der Spiegel nicht mein Abbild gezeigt?«
    »Habt Ihr in jüngster Zeit einen Blick in ihn geworfen?«
    »Nein, ich habe Angst davor, was ich vielleicht sehe – oder
nicht
sehe.«
    »Der Spiegel gibt Euch Eure Selbsteinschätzung zurück. Ihr habt kein persönliches
Imago
, weil Tamurello es Euch verweigert hat, um Euch unterwürfig zu halten. Das ist zumindest meine Vermutung. Da Ihr Euch weigert, mir zu vertrauen, kann ich Euch nicht helfen.«
    Melancthe wandte den Blick hinaus auf die Wiese und sagte, überrumpelt, wie sie war, vielleicht mehr, als sie eigentlich wollte: »Der Rat eines Mannes würde mich nur schwächen.«
    Shimrod zog die Stirn kraus. »Warum sollte das so sein?«
    »Weil die Dinge eben so sind.«
    Shimrod sagte nichts, und gleich darauf schrie Melancthe: »Ihr starrt mich schon wieder an!«
    »Ja, ich staune. Aber jetzt schwant mir endlich, was Ihr mir nicht sagen

Weitere Kostenlose Bücher