Lyonesse 2 - Die grüne Perle
zurück blieben einmal mehr quälende Bilder und der plagende Duft von Veilchen.
Shimrod versuchte, die Visionen zu vertreiben: »Geht! Fort mit euch! Verschwindet! Löst euch in Luft auf und quält mich nie mehr! Wäre der Gedanke nicht absurd, so könnte ich glauben, ihr wärt einer von Tamurellos Tricks, mit denen er zu vergelten trachtet, was ich ihm anzutun versuche.«
In der Nacht wurde Shimrod ruhelos und ging hinaus, um den Mond zu beobachten. Die Wiese lag ruhig; nichts als das Zirpen der Grillen und fernes Froschgequake waren zu hören. Shimrod wanderte über die Wiese zu dem alten Anlegesteg am Lally-Wasser. Der Mond hatte bereits seinen Abstieg begonnen. Das Wasser war still und dunkel; als Shimrod einen Kieselstein hineinwarf, kräuselte sich das Wasser silbrig ... Eine Spähfahne, die über sein Haupt hinweg schwebte, wisperte ihm plötzlich eine Warnung zu: »Jemand steht in der Nähe; Magie ist gekommen und gegangen!«
Shimrod wandte sich um und entdeckte – keineswegs zu seiner Überraschung – am Ufer eine zerbrechliche Gestalt in weißem Gewand und schwarzem Umhang: Melancthe. Sie blickte zum Mond hinauf und schien ihn nicht zu bemerken.
Shimrod schenkte ihr keine Beachtung.
Sie ging auf ihn zu und blieb vor ihm stehen. »Ihr scheint nicht überrascht zu sein, mich hier zu finden.«
»Ich frage mich nur, wie Tamurello es angestellt hat, Euch zum Herkommen zu bewegen.«
»Es kostete ihn keine Mühe; ich kam aus eigenem Willen.«
»Seltsam! Heute nacht müßtet Ihr doch mit Euren Freunden auf dem Felsenriff singen!«
»Ich habe beschlossen, nicht mehr dort hinzugehen.«
»Wieso?«
»Das ist ganz einfach. Ich hatte eine Wahl: leben oder sterben. Ich entschied mich für das erstere, was mich vor eine neue Wahl stellte: Sollte ich fortfahren, als Ausgestoßene zu leben und auf den Felsen singen, oder sollte ich die Wege der menschlichen Rasse nachahmen? Erneut entschied ich mich für das letztere.«
»Ihr betrachtet Euch nicht als der menschlichen Rasse zugehörig?«
Mit leiser Stimme antwortete Melancthe: »Tamurello hat mir beschieden, ich sei ein neutrales verständiges Wesen von nicht allzu großer Kraft in einer weiblichen Maske.« Sie sah Shimrod ins Gesicht. »Was meint Ihr?«
»Ich meine, daß Tamurello uns lauscht und lächelt. Spähfahne, halte gut Ausschau: Was horcht und was beobachtet?«
»Ich gewahre nichts.«
Shimrod grunzte skeptisch. »Und welches waren Tamurellos Anweisungen für Euch?«
»Er sagte, die Menschheit sei zum größten Teil grob, dumm, rüpelhaft und ungebildet, und zumindest das könne ich von Euch lernen.«
»Ein andres Mal. Und nun, Melancthe, wünsche ich Euch eine gute Nacht.«
»Wartet, Shimrod! Ihr habt mir gesagt, ich sei schön, und Ihr habt Euch bemüht, mich zu küssen. Heute nacht bin ich nach Trilda gekommen, und nun seid Ihr es, der zurückweicht. Das ist ein merkwürdiger Widerspruch.«
»Überhaupt nicht. Ich bin verblüfft und auf der Hut. Tamurellos Beweggründe sind ganz eindeutig, aber Eure sind unklar. Ich glaube, daß Ihr mich für dümmer haltet, als ich bin. Wenn Ihr mich nun entschuldigen wollt ...«
»Wohin geht Ihr?«
»Zurück nach Trilda – wohin sonst?«
»Und Ihr wollt mich allein im Dunkeln zurücklassen?«
»Ihr wart vorher auch allein im Dunkeln.«
»Wir werden zusammen nach Trilda gehen, da ich nirgendwo sonst hin kann. Und wie ich bereits sagte, bin ich aus eigenem Willen hergekommen.«
»Ihr zeigt nach außen wenig Wärme. Es ist mehr, als hättet Ihr Euch für eine große Herausforderung gerüstet.«
»Es ist eine neue Erfahrung für mich.«
Mit Mühe beherrschte Shimrod seine Stimme. »Ich hätte Euch vielleicht froher empfangen, wenn Ihr nicht Eure Dienstmagd angewiesen hättet, mir den Einlaß zu verwehren. Wenn man die Stimmung eines anderen einschätzt, dann ist ein solcher Akt ein bedeutsamer Fingerzeig.«
»Vielleicht, aber dieser Rückschluß könnte auch falsch sein. Bedenkt, Ihr wart in mein Leben eingedrungen und hattet meinen Geist mit Euren Reden verwirrt und ins Schwanken gebracht. Und nun habe ich meinen Widerstand endlich aufgegeben und bin auf Euer Geheiß hergekommen.«
»Auf Tamurellos Geheiß.«
Melancthe lächelte. »Ich bin ich, und Ihr seid Ihr. Was soll uns da Tamurello kümmern?«
»Ist Euer Gedächtnis so kurz? Ich habe Grund, wachsam zu sein.«
Melancthe wandte den Blick ab und schaute über das Wasser. »Er gab mir keine Anweisungen. Er sagte, Ihr wäret hier in Trilda und
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