Lyonesse 3 - Madouc
eine Kammer von der Art, wie Ihr sie wünscht, frei geworden und steht für Euren Einzug offen. Welchen Namen soll ich in mein Fremdenbuch eintragen?«
»Schreibt ›Tace‹ hinein«, sagte Shimrod.
»Sehr wohl, Herr Tace. Der Bursche wird Euch Eure Kammer zeigen. Fonsel! Komm sofort her! Führe Herrn Tace zum großen Westzimmer!«
»Einen Augenblick noch«, sagte Shimrod. »Ich frage mich, ob wohl ein Freund von mir gestern bei Euch abgestiegen sein könnte, etwa um diese Stunde, vielleicht auch etwas später. Ich bin nicht sicher, unter welchem Namen er reist.«
»Gestern kamen mehrere Gäste«, sagte der Wirt. »Wie sieht Euer Freund aus?«
»Er ist von durchschnittlicher Art. Er trägt Kleider, bedeckt sein Haupt mit einem Hut und ist beschuht.«
Der Wirt sann nach. »Ich kann mich eines solchen Herrn nicht entsinnen. Sir Fulk von Thwist kam am Mittag; er ist ungeheuer korpulent und hat eine große Geschwulst auf der Nase. Am Nachmittag kam ein gewisser Janglart, aber er ist lang und dünn wie eine Gerte, sehr bleich, und von seinem Kinn hängt ein langer weißer Bart herab. Der Schafhändler Mynax ist von durchschnittlicher Beschaffenheit, aber ich habe ihn noch nie mit einem Hut auf dem Kopf gesehen: er hat stets einen zylinderförmigen Helm aus Schafsleder auf. Außer diesen genannten Herren mietete sich niemand für die Nacht ein.«
»Je nun, es ist auch nicht gar so wichtig«, sagte Shimrod. Wahrscheinlich, dachte er, hatte der Shybalt es vorgezogen, die ganze lange Nacht auf einem hohen Giebel hockend zu verbringen, statt die Enge einer Kammer zu ertragen. »Mein Freund wird zu gegebener Zeit schon eintreffen.«
Shimrod folgte Fonsel die Treppe hinauf in die Kammer, die er zufriedenstellend fand. Er ging wieder nach unten, schritt zur Vorderseite des Gasthofs und ließ sich an einem Tisch nieder, wo er zu Abend speiste: zuerst ein Dutzend frisch gebratene Sardinen, dann eine Schüssel Saubohnen mit Speck mit einer Zwiebel als Beigabe, dazu einen Kanten frischen Brotes und ein Viertel würzigen Bieres.
Die Sonne versank im Meer. Gäste kamen und gingen; keiner von ihnen erregte Shimrods Verdacht. Es mochte gut sein, daß der Shybalt sein Werk bereits getan hatte und wieder abgereist war, erwog Shimrod. Seine Aufmerksamkeit mußte sich nunmehr unvermeidlich auf Melancthe konzentrieren, die kaum eine Meile von hier entfernt in einer weißen Villa am Strand residierte und die vormals – aus Gründen, die Shimrod nie hatte klären können – im Auftrage und auf das Geheiß von Tamurello gewirkt hatte. Offenbar war er niemals ihr Geliebter gewesen – er hatte ihrem Bruder Faude Carfilhiot den Vorzug gegeben. Die Beziehung mochte Desmëi gefallen haben oder auch nicht – wäre sie am Leben gewesen und der Verbindung gewahr. Es war, sann Shimrod, fürwahr ein verworrenes Knäuel von kaum plausiblen Möglichkeiten und schockierenden Realitäten. Melancthens Rolle war so undurchsichtig wie eh und je und wahrscheinlich nicht einmal für sie selbst durchschaubar. Wer hatte je auch nur die äußersten Schichten von Melancthes Bewußtsein ergründet? Er, Shimrod, ganz gewiß nicht.
Zwielicht senkte sich auf Ys, die Stadt der Hundert Paläste. Shimrod erhob sich von seinem Tisch und schlenderte den Hafenweg hinunter, der, sobald er die Docks hinter sich gelassen hatte, nach Norden schwenkte und neben dem weißen Strand verlief.
Die Stadt blieb zurück. Heute abend herrschte Windstille, und die See war ruhig. Die Brandung schwappte träge den Strand herauf, ein dumpfes, einschläferndes Geräusch erzeugend.
Shimrod näherte sich der weißen Villa. Eine brusthohe Mauer aus weißem Stein umfriedete einen Garten, in dem Lilien, Sonnenblumen, Thymian, drei schlanke Zypressen und zwei Zitronenbäume wuchsen.
Die Villa und der Garten waren Shimrod wohlbekannt. Er hatte sie zum ersten Male in einem Traum gesehen, der Nacht für Nacht wiederkehrte. In diesem Traum war ihm zum ersten Mal Melancthe erschienen: eine dunkelhaarige Jungfer von herzzerreißender Schönheit und voller Widersprüchen.
Heute abend indes schien Melancthe nicht daheim zu sein. Shimrod ging durch den Garten, überquerte die geflieste Terrasse und klopfte an der Tür. Er bekam keine Antwort, nicht einmal von der Magd. Weder Kerzen- noch Lampenschein waren drinnen auszumachen. Kein Laut war zu hören außer dem leisen Rauschen der Brandung.
Shimrod verließ die Villa und kehrte in die Stadt und zum Gasthof ›Zum Sonnenuntergang‹ zurück.
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