M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
tatsächlich ans Ufer gebracht. Aber sie war schon tot.
Das hat den Mille schwer getroffen. Dass er sie nicht hat retten können. Aber er war der Einzige, der überhaupt reagiert hat. Alle haben ihm auf die Schulter geklopft.
Oft saß er bei meiner Mutter in der Küche und schaute ihr beim Kochen zu. Stundenlang konnte er einfach so dasitzen. Er hat ihr Sachen erzählt, von denen seine Spezln keine Ahnung hatten. Ich weiß noch, dass er ihr als Einzige verraten hat, er würde nach der Schule weggehen von daheim, und zwar weit weg, nach Berlin. Meiner Mutter machte das Sorgen, weil sie von meinem Vater wusste, dass der alte Grieg seinen Buben als Nachfolger im Geschäft vorgesehen hatte. Und dann hat er’s getan und ist weg, von einem Tag auf den anderen. Seine Eltern konnten es nicht glauben. Sein Vater war am Boden zerstört. Ich war mal dabei, da hat er meinem Vater sein Leid geklagt. Eine Zeitlang hatten sie überhaupt keinen Kontakt mehr, der Mille und seine Eltern.
Später ist er zur Kripo gegangen, das wissen Sie ja alles. Seine Eltern erfuhren gar nichts.
Und plötzlich tauchte er wieder bei uns auf, vor ungefähr zehn Jahren. Meine Tochter war schon im Kindergarten, und ich war mit meinem Sohn schwanger. Hab den Mille sofort erkannt. Natürlich kam er allein, an einem Sonntag so wie heut. Muss im Winter gewesen sein, alles grau und kein Schnee. Er sagte, er hätte eine Woche Urlaub und müsse mal raus aus dem Job, aus der Stadt, an einen vertrauten schönen Ort. Das waren seine Worte. Also hab ich ihm Zimmer vierzehn gegeben, und wann immer er dann später kam und ein paar Tage ausspannen wollte, war das Zimmer für ihn fertig. Ich verstehe nicht, wieso Sie sagen, er sei verschwunden, ich dachte, er hätte Urlaub.«
»Das hat er zu Ihnen gesagt.«
»Wie immer.«
»Wie lang will er Urlaub bei Ihnen machen, Frau Biller?«
»Bis … bis heute! Genau zwei Wochen waren das jetzt. Sie haben vorhin Andeutungen gemacht: Wer genau hat Ihnen denn den Auftrag erteilt, ihn zu suchen?«
»Seine Geliebte.«
Die Wirtin sah ihn mit einem derart skeptischen Blick an, dass Süden beinahe geschmunzelt hätte. »Sie glauben nicht, dass Mille eine Geliebte haben könnte«, sagte er.
»Wenn Sie’s sagen, wird’s stimmen.«
»Hatte er den Urlaub geplant? Hat er sich vor den zwei Wochen bei Ihnen gemeldet?«
»Überhaupt nicht. Kein Anruf, nichts. Und vor zwei Wochen, sonntags, urplötzlich, steht er in der Tür. Es war am späten Nachmittag, gegen fünf. Die Stube war leer, die Mittagsgäste waren alle gegangen, und am Nachmittag waren keine neuen dazugekommen. Da stand er, mit seiner blauen Reisetasche, und sah nicht gut aus. Er fragte, ob er sein Zimmer haben könne, er brauche zwei Wochen Abstand. Die Formulierung ist mir vertraut. Das Zimmer war sauber, alles fertig also. Ich hab ihn rüber ins Nebengebäude begleitet und ihn unterwegs gefragt, was mit ihm los sei. Er müsse mal ausschlafen, Luft tanken, für sich sein. Er bat mich, niemandem zu sagen, dass er hier sei. Ich fragte ihn, wer auf die Idee kommen sollte, ihn hier zu suchen. Er meinte, man könne nie wissen. Er sei jedenfalls nicht da. Dann bat er darum, sein Auto in eine der Gästegaragen fahren zu dürfen, was kein Problem war, da beide leer standen. Er war der einzige Gast.
Jeden Morgen gegen halb acht kam er rüber und trank seinen Kaffee, aß eine Scheibe Brot mit Wurst oder Käse und verschwand wieder. Sein Abendessen nahm er in seinem Zimmer ein, ich brachte es ihm, und er entschuldigte sich ständig für seinen Wunsch, allein sein zu wollen. Ich versicherte ihm, wie sehr ich mich freue, ihn wiederzusehen, und er solle sich wie zu Hause fühlen. Diese Bemerkung, die ich nur einmal gemacht hab, hat den starken Mann irgendwie aus dem Gleichgewicht gebracht. Bilde ich mir jedenfalls ein. Ich dachte schon, er weint gleich, so wie Sie vorhin …«
»Ich habe nicht geweint.«
»Ich weiß, Sie hatten Staub in den Augen. Auch die Tränen der Männer müssen ab und zu raus, sonst staut sich’s im Kopf. Auf jeden Fall bin ich dann schnell raus aus seinem Zimmer. Am nächsten Tag bat er wieder um Nachsicht für sein Verhalten. Zwei Mal am Tag, öfter hat ihn niemand zu Gesicht gekriegt, zwei Wochen lang. Wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn vielleicht noch in seinem Zimmer.«
»Der ist nimmer in seinem Zimmer, der ist in den Wald nauf.«
Weder Anja Biller noch Süden hatten den neunjährigen, sonntäglich gekleideten, dunkelhaarigen Jungen
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