M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Liebergesell warf jetzt häufiger einen Blick zu ihrer grünen Handtasche, die sie, wie es ihrer Gewohnheit entsprach, neben sich auf den Boden gestellt hatte.
»Und der Wirt genauso, dieser Mario Dings«, sagte Patrizia.
»Mario Klinke.«
»Von mir aus.« Patrizia sah den Kommissar nicht an.
Süden schwieg.
Franck zog das untere Blatt hervor und legte es obenauf. Er las – oder tat so – die getippten Zeilen und machte ein verzurrtes Gesicht. »Wie gesagt, wir werden alle offenen Fragen klären. Das verspreche ich Ihnen. Wir werden die Verantwortlichen vor Gericht bringen.«
Er machte eine Pause. »Etwas anderes müssen wir auch noch klären. Ich habe hier die Notiz eines Kollegen vom Verfassungsschutz. Demnach war Leonhard Kreutzer von 1966 bis 1968 Mitglied der NPD. Wussten Sie das?«
Sie glaubte ihm nicht. »Sie sind niederträchtig«, sagte Edith Liebergesell. »Jetzt wird mir klar, was hier gespielt wird, in Ihrer Behörde, Sie wollen …«
In diesem Moment sprang Patrizia vom Stuhl auf und griff nach der Akte auf dem Tisch. Wäre sie nicht aufgesprungen, sondern hätte nur schnell den Arm ausgestreckt, hätte sie die Papiere vermutlich erwischt. So jedoch hatte Franck Zeit genug, Patrizias Hand zu packen und auf die Tischplatte zu drücken. Die junge Frau stieß einen Schrei aus und schlug mit der linken Hand zu. Geistesgegenwärtig beugte der Kommissar sich nach hinten und nahm gleichzeitig die Akte vom Tisch. Dabei hielt er immer noch Patrizias Hand fest. »Hinsetzen!«, sagte er ohne größere Betonung.
Edith Liebergesell hatte die Aktion überrumpelt. Erschrocken hatte sie sich zur Seite gebeugt, zu Süden hin, der scheinbar unbeteiligt auf seinem Stuhl saß. In seiner Zeit als Kommissar hatte er häufig Attacken von Zeugen oder Beschuldigten erlebt, abrupte Wutausbrüche oder den Versuch, mit Gewalt der Situation zu entkommen. Er hatte sich nicht einschüchtern lassen und, wenn es sein musste, Gegenwehr geleistet. Mit Patrizias Reaktion hatte er fast gerechnet. Als sie sich wieder hinsetzte, warf sie ihm einen Blick zu, der vor Vorwürfen loderte. Natürlich erwartete sie, dass er sie verteidigte und den Kommissar in die Schranken wies.
Süden glaubte Franck, da er ihn nicht für einen Trickser hielt, von denen er früher einige im Dezernat gekannt hatte, sondern für einen Ermittler, der vor allem Fakten sammelte und sortierte, die er beweisen und von denen er klar sagen konnte, dass sie zusammenpassten. Das, wie Süden inzwischen einsah, eher ungeschickte Taktieren der Detektei-Mitarbeiter hatte Franck zuerst misstrauisch werden lassen und dann geärgert, weil er den Zweck dieser Art negativer Kooperation nicht begriff. Er verhielt sich wie ein erfahrener, logisch denkender Kriminalist. Und er hatte nicht den geringsten Anlass für eine Provokation oder falsche Behauptungen.
Weil er sich gut in seinen Ex-Kollegen hineinversetzen konnte, glaubte Süden ihm und schämte sich dafür.
»Herr Kreutzer hat diese Pateimitgliedschaft also Ihnen gegenüber nie erwähnt«, sagte Franck. Er legte die Akte aufgeschlagen wieder auf den Tisch, hob den Zeigefinger in Richtung Patrizia, ließ zur Sicherheit aber seine Hände auf den Papieren. »Und er hat sich auch Ihnen gegenüber nie politisch geäußert. Oder doch?«
»Nein«, sagte Edith Liebergesell. Mehr als je zuvor brauchte sie eine Zigarette. »Darf man bei Ihnen rauchen?«
Franck schüttelte unmerklich den Kopf. »Bitte konzentrieren Sie sich. Mir liegt diese Information vor, und ich hab nicht die Absicht, falsche Schlüsse zu ziehen. Verstehen wir uns, Frau Liebergesell? Wenn Sie sagen, Sie vermuten rechtsradikale Umtriebe im Zusammenhang mit Ihren Privatermittlungen und Ihre eigene Klientin sei möglicherweise in der rechten Szene tätig, und dann erfahre ich, dass einer Ihrer Mitarbeiter Mitglied in einer rechtsradikalen Partei war, habe ich die Pflicht, darüber nachzudenken, was das bedeuten könnte. Bedeutet es etwas, Frau Liebergesell? Seit wann kennen Sie Herrn Kreutzer?«
»Leo ist kein Nazi«, sagte Patrizia. Süden war klar, dass sie an diesem Tag keinen Blick mehr an Franck verschwenden würde, vielleicht auch keinen mehr an ihn.
Eine Weile zupfte sich der Kommissar in gewohnter Manier an der Nase. Vom Flur waren Stimmen zu hören, Handys klingelten. »Er war sehr jung damals.« Dann hob er den Kopf und sah zum Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, durch das graues Licht vom Hinterhof des Präsidiums hereinfiel.
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