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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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doch »das große Gesetz«. Dieses hatte Süden als sehr junger Mann für sich entdeckt, und dessen Wortlaut hatte er von seinem Lieblingsdichter geborgt: Die Liebe zwingt all uns nieder.
    Seit er seinen aufrechten Gang und seine Rolle in der Welt begriffen hatte, glaubte Süden an die magische Wahrhaftigkeit der Liebe, vor deren Wucht letztlich jeder Mensch kapitulierte und gezwungen war, sein noch so gehütetes Geheimnis zu offenbaren – zuerst gegenüber sich selbst, dann vor einem Fremden, einem Freund, einem Polizisten.
    Das war es, was Süden wie besessen glaubte.
    »Doch es kehret umsonst nicht unser Bogen, woher er kommt.« Hölderlins Verse hallten in ihm seit seiner Jugend wie ein Mantra wider, dem er folgte und vertraute. Seiner unausgesprochenen Überzeugung nach war das Erkennen eines jeden nackten, ungeschönten, tränen- oder blutüberströmten Gesichts möglich.
    Niemand, dachte Süden, sei undurchschaubar, niemand zur absoluten Lüge fähig, zum perfekten Verbrechen. Für jeden kam die Stunde der bedingungslosen Erkenntnis, und manchmal bestimmte einer wie er, Süden, den Zeitpunkt.
    Heute war Freitag, der dritte Februar, acht Minuten nach zehn Uhr vormittags. Das sah er auf der Uhr im Halbdunkel des Kiosks. Süden dachte, dass er nichts weiter sei als ein aus einem selbstgezimmerten Himmel gestürzter Engel, der vor die Füße der allergewöhnlichsten Erdenbewohner geplumpst war. Diese folgten den allgemeinen Regeln und hielten eine Gestalt wie ihn für einen aufdringlich riechenden Besserwisser, der sie beim Essen störte.
    Mit einem Mal war Süden alles klar. Als wäre der Seiltanz mit verbundenen Augen schlagartig zu Ende und er wie elektrisiert von der Berührung mit dem Asphalt, sagte er zu dem Mann am Kioskfenster: »Ich nehme eine Semmel mit Schinken, ein Stück Mohnkuchen und einen Becher Kaffee mit Milch und Zucker.«
    »Sie können auch reinkommen, hier drin ist’s wärmer.«
    »Hier draußen ist es genau richtig.« Süden stellte sich an den Rand des hölzernen, lackierten Fensterbretts und beschloss, während er aß und trank und – so empfand er es – endgültig und vollständig in diesen Tag hineinwuchs, den begonnenen Weg weiterzugehen. Weil es sein Weg war und seine Art zu gehen. Vielleicht glaubte er nun an etwas anderes als bisher, er wusste es noch nicht.
    Was er wusste, war, dass er seinen Schatten wiederhaben wollte, der zu ihm gehörte und den er in der andauernden Finsternis dieses Falles beinah verleugnet hätte. »Noch einen Kaffee, bitte«, sagte er zu dem Mann im Kiosk und schaltete sein Handy ein.

    Edith Liebergesell war verwirrt, als sie die Nummer auf dem Display las. Sie hatte gerade ihren Mantel angezogen und war dabei, die Detektei zu verlassen, um sich ein billiges Handy zu besorgen. Unentschlossen ließ sie es dreimal klingeln, bevor sie den Hörer abnahm.
    »Wir ändern nichts«, sagte Süden am anderen Ende.
    Über diesen Satz zur Begrüßung war sie so überrascht, dass sie kein Wort hervorbrachte. »Wir werden nicht feig sein.« Sie hörte Autogeräusche und Kinderstimmen im Hintergrund. »Niemand kann uns den Auftrag verbieten. Und wenn sonst niemand dazu in der Lage ist, werden wir herausfinden, wer Leo so zugerichtet hat.« Er machte eine Pause, aber Edith blieb stumm. »Alles andere wäre so, als würden wir einknicken, ohne vorher überhaupt aufrecht gestanden zu haben.«
    »Süden?« Sie zögerte. »Hast du was getrunken?«
    »Kaffee.«
    »Sonst nichts?« Plötzlich überlegte sie, ob hinter seinen Sätzen ein geheimer Code steckte, den sie nicht abgesprochen hatten.
    »Hast du eine Nachricht aus dem Krankenhaus?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Edith?«
    »Keine Nachricht.«
    »Wo ist Patrizia?«
    »Beim Zahnarzt«, sagte sie aus Versehen.
    »Das tut weh.«
    »Entschuldige. Warum … Was ist los mit dir? Wo bist du?«
    »In der Stadt, in der Nähe eines Handymasts. Kannst du mir bitte zwei Telefonnummern raussuchen?«
    »Sicher, aber ich versteh nicht … Du rufst vom Handy auf meinem Festnetz an und … Hast du keine Angst?«
    »Wovor?«
    »Bitte?«
    »Ich habe Angst, dass wir Zeit verlieren oder dass andere uns die Zeit wegnehmen.«
    Mit ihrem zugeknöpften Mantel setzte Edith Liebergesell sich wieder hin, wechselte den Hörer in die linke Hand, verharrte. Was gerade passierte, war ihr ein Rätsel, und sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Eigentlich hielt sie es für ausgeschlossen, dass Süden am Vormittag Alkohol trank, doch bei ihm konnte

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