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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Schwarzweißfotografien, Zeitungen und Illustrierte, vergilbte Taschenbücher, CDs und Musikkassetten.
    In der linken Ecke des etwa fünfunddreißig Quadratmeter großen Zimmers stand ein Doppelbett, zugedeckt mit einer roten Wolldecke, auf der zwei große, zottelige Teddybären hockten. Neben dem Bett war die Tür zum Badezimmer, die fensterlose Küche lag rechts neben der Eingangstür. Süden warf einen Blick hinein. Auf der Anrichte türmte sich schmutziges Geschirr, auf dem Boden standen ein Kasten mit leeren Bierflaschen und ein Bastkorb mit leeren Wasser- und Saftflaschen.
    Süden beugte sich zur Kühlschranktür hinunter, auf der ein ihm unbekanntes Symbol mit einem Schriftzug klebte: »Unser Symbol – Das Dreierschild.« Es zeigte zwei ineinander verschlungene waagrechte Schalen und eine gleich große senkrechte Schale. Darunter stand auf einem zweiten Aufkleber: »Deutschland stirbt nicht!«
    Zu seiner Überraschung wunderte sich Süden nicht darüber.
    Auch wenn er keine Ahnung hatte, was das Symbol bedeutete, war ihm sofort klar, was es nicht bedeutete: Nächstenliebe.
    Dieses Wort war das erste, das ihm einfiel. Er hatte es lange nicht mehr gehört. In seiner Kindheit, als Ministrant, war das Wort fester Bestandteil der Texte, die der Pfarrer vorlas. Während seiner Zeit als Hauptkommissar hatte er es kein einziges Mal ausgesprochen, vielleicht in bestimmten Situationen empfunden, wenn die Leute ihn barmten, deren vermisste Angehörige er nur noch tot zurückbringen konnte.
    Ein im täglichen Leben beinahe ausgestorbener, von seiner eigenen Bedeutung erschlagener Begriff, dachte Süden.
    Nächstenliebe.
    Er wollte später darüber nachdenken, warum er ausgerechnet jetzt darauf kam.
    Von draußen drangen das unaufhörliche Trommeln des Regens und das Hupen von Autos herein. Aber das Licht im Zimmer war nicht kalt. An der Decke hing eine Lampe mit einem altmodischen Stoffschirm, von dem weizenfarbene Troddeln baumelten. Süden sah sich um, bevor er noch einmal in die Küche zurückkehrte.
    Er nahm sein Handy aus der Tasche, tippte nicht gerade geschickt darauf herum, fand die gesuchte Funktion. Er fotografierte die Aufkleber auf dem Kühlschrank und behielt das Telefon in der Hand, während er zum Bücherregal ging und die unzähligen, kreuz und quer gestapelten Bände betrachtete. Karl-May-Sammlungen standen neben mindestens zwanzig Werken von Jack London und verschiedenen Ausgaben von »Robinson Crusoe« und »Lederstrumpf«. Unzählbar erschienen Süden die Bücher mit Kinder- und Jugendliteratur, wobei Mia Bischof offensichtlich eine Vorliebe für die Autorinnen Else Ury und Magda Trott hegte, deren Namen er auf fast allen Buchrücken in einem einzigen Regal las. Er machte weitere Fotos.
    In langen Reihen entdeckte Süden Fortsetzungsgeschichten mit immer denselben Hauptfiguren: »Nesthäkchen«, »Goldköpfchen«, »Pucki«. Titel wie »Nesthäkchens Backfischzeit«, »Pucki als junge Hausfrau«, »Goldköpfchens Glück und Leid« zeigten ein Panorama idyllischer Heimatwelten, in denen die Kinder schwere Prüfungen zu bestehen hatten. Dadurch wurden sie gestärkt und begriffen, zu welchem Volk sie gehörten und welche Pflichten sie bedingungslos zu erfüllen hatten. Das Leben lohnte, wenn man gehorchte.
    Süden hörte nicht auf zu blättern. Manche Ausgaben waren staubig und die Seiten rissig, die Illustrationen verblasst und die Bände an vielen Stellen geklebt. Bilderbücher aus den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dienten als Stütze für andere, heutige Exemplare. Eines der zerlesenen, vergilbten Bilderbücher trug den Titel »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid«. Süden legte das Buch auf den Holztisch vor dem gestreiften braun-grünen Sofa und fotografierte es. Dann legte er es so zurück, wie er es aus dem Regal genommen hatte, und rieb sich die Hände an seiner Hose ab.
    Einen Moment überlegte er, in der Küche ein Glas Wasser zu trinken. Dann setzte er sich aufs Sofa neben der Küchentür, gegenüber dem modernen Flachbildfernseher, krümmte den Rücken und keuchte.
    Er hob den Kopf und sah sich wieder um, als würde er etwas Neues entdecken. Ihm fiel auf, dass der kleine Tisch mit dem Fernseher Räder hatte, so dass Mia das Gerät zum Bett drehen konnte. An der Wand links neben der Eingangstür und dem Fenster thronte ein breiter, alter Bauernschrank aus massivem Holz mit kräftigen Intarsien und einem schmiedeeisernen Schlüssel. Den

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