M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
wie sie ihn in Gesprächen mit dem Personal nannte. Ihre Müdigkeit bereitete ihr Sorge, und das schon die ganze Woche. Sie hoffte, dass wieder einmal nur die Arbeitsbelastung dahintersteckte und sonst nichts.
Jeden Morgen um sechs Uhr aufzustehen und dann, wenn zusätzliche Veranstaltungen zu bewältigen waren – wie das Treffen des Freundeskreises an diesem Wochenende –, bis Mitternacht durchzuhalten, zehrte mehr an ihren Kräften als früher, auch wenn sie sich gesund ernährte, ausreichend Wasser trank und es meistens schaffte, sich am Nachmittag eine halbe Stunde zurückzuziehen und die Beine hochzulegen. Heute war sie nicht dazu gekommen. Als vorhin ihr Dienstherr anrief, hatte sie gerade ihre Schürze ausgezogen und wollte in ihr Zimmer gehen.
»Ich sehe Ihnen an, dass Sie erschöpft sind, Frau Burg«, sagte er. »Ich will Sie nicht aufhalten, aber wir hatten in jüngster Zeit wenig Gelegenheit, ein paar persönliche Sätze zu wechseln.«
»Ihr Haus ist beliebt, Herr Geiger, wir sind alle immer wieder stolz auf Ihren Erfolg.«
»Das weiß ich, und es ist selbstverständlich der Erfolg der Gemeinschaft. Ich bin nur ein Teil davon. Was ich Sie fragen will: Wie geht es Ihnen nach der Trennung von Ihrem Mann? Das war eine schwere Zeit, Sie haben wenig darüber gesprochen. Sie sind eine bescheidene Person, das schätze ich an Ihnen seit mehr als zehn Jahren. Wie ich vieles andere an Ihnen wertschätze. Haben Sie die Trennung überwunden?«
»Ja.« Ines Burg krallte die Finger ineinander. »Die Entwicklung war abzusehen, mein Leben und seines hatten keine gemeinsame Basis mehr. Unsere Tochter, die Lisa, ist mit achtzehn ausgezogen und lebt jetzt in Amerika, was will man da machen? Sie wollte halt in die große Welt. Mein Mann hat seine Steuerkanzlei, nicht groß, aber einträglich, er hat treue Klienten. Wir haben uns kaum noch gesehen, ich war oft drei Wochen am Stück im Hotel, das verkraftet eine Ehe auf Dauer nicht. Es ist gut, wie es ist, ich bin sehr zufrieden hier im Haus.«
»Es ist immer bedauerlich, wenn eine Lebensgemeinschaft zerbricht. Die Ehe ist eines der höchsten Volksgüter, die wir besitzen. Aber sie haben eine Tochter großgezogen, das ist wunderbar, das bleibt, das ist ein tief verwurzelter Wert. Sie wissen, wie sehr meine Tochter darunter leidet, keine Mutter zu sein, das quält sie immer wieder, auch wenn ich ihr sage, sie soll diese Selbstgeißelungen lassen. Sie hat einen Beruf, in dem sie wirken kann, sie engagiert sich auf anderen Feldern, die uns allen dienen. Manchmal benimmt sie sich sehr schwach, meine liebe Mia. Ich bin froh, dass sie so großes Vertrauen zu Ihnen gefasst hat, Frau Burg.«
»Wir mögen uns. Wir sprechen viel miteinander, ich glaube, ich darf sagen, wir sind wirklich Freundinnen geworden. Und seit ich GDF-Mitglied bin, verbindet uns eh so vieles mehr, die Gesprächsrunden, die Ausflüge, die Aktionen für die Kleinen, Sie kennen das alles.«
»Ich kenne es und bin stolz auf euch«, sagte Geiger. Er beugte sich zu ihr hinunter und berührte sie an der Schulter. »Bitte gehen Sie jetzt schlafen, Sie sehen müde aus, und ich möchte auf keinen Fall, dass Sie wegen mir krank werden. Weil ich Ihnen zu viel abverlange. Wenn Sie sagen, Sie benötigen eine Gehilfin, kümmere ich mich darum, wir stellen jemanden ein, das habe ich Ihnen versprochen.«
»Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Herr Geiger.« Beim Aufstehen glaubte sie eine Sekunde lang, ihr gesamtes Blut würde aus ihrem Körper schießen. Sie gab ein kurzes Stöhnen von sich, für das sie sich sofort genierte.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch. Das schnelle Aufstehen …« Sie griff nach dem Eimer und verfehlte beim ersten Mal den Henkel. Geiger beobachtete sie, dann ging er zur Tür. Mit schleppenden Schritten, denen sie sich nicht bewusst war, durchquerte die Vierundfünfzigjährige das Zimmer, in der rechten Hand den Eimer, die linke auf dem Bauch.
»Schlafen Sie recht gut«, sagte Geiger und hielt ihr die Tür auf.
»Ihnen auch eine gute Nacht. Bitte entschuldigen Sie mein … Es ist alles in Ordnung.« Sie war schon im Flur, als sie sich noch einmal umdrehte. »Da fällt mir ein, Ihre Tochter hat mich vorhin gebeten, Sie etwas zu fragen. Sie hätte es selber getan, aber sie wollte keine Zeit verlieren, wegen der jungen Frau, die sich bei uns eingeschlichen hat. Wir sind doch dabei … also Ihre Tochter ist natürlich die Hauptverantwortliche, wir unterstützen sie nur nach Kräften … Sie
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