Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
bestimmt. „Mir steht aber wie jeder Angestellten Urlaub zu. Seit ich mich um Ihren Haushalt kümmere, habe ich noch keinen einzigen Tag freigenommen. Ich verstehe nicht, wo da ein Problem liegen soll.“
Mabel und Victor standen sich im Behandlungszimmer der Praxis gegenüber, denn der Tierarzt hatte Wochenendnotfalldienst. Bisher war der Samstag ruhig verlaufen, und er war gerade dabei gewesen, den Medikamentenvorrat zu überprüfen und eventuelle Nachbestellungen zu notieren, als Mabel ihn mit ihrem – seiner Meinung nach völlig absurden – Wunsch konfrontiert hatte.
„Ich wüsste nicht, warum Sie Erholung nötig haben sollten“, knurrte Victor. „Sie sehen doch aus wie das blühende Leben.“
„Danke, solche Worte aus Ihrem Mund werte ich als Kompliment.“
Mit einem Lächeln nahm Mabel dem Tierarzt den Wind aus den Segeln, und seine Miene entspannte sich, als er fragte: „Wollen Sie verreisen?“
Mabel antwortete ehrlich: „Ich habe vor, die nächsten Tage in einem anderen Haushalt zu arbeiten.“
„Wie meinen?“ Immer, wenn Victor verblüfft war, verfiel er gern in eine seltsame Ausdrucksweise. „Bezahle ich Ihnen etwa nicht genug?“
„Ach, Victor.“ Mabel schüttelte den Kopf und lächelte verschmitzt. „Sie wissen, dass ich es finanziell gesehen nicht nötig habe, überhaupt zu arbeiten. Um Ihren Haushalt kümmere ich mich, weil ich nicht möchte, dass Sie völlig im Chaos versinken. Sie schaffen es ja nicht, eine andere Haushälterin zu finden.“
„Was kann ich dafür, dass die meisten Frauen überempfindlich und kompliziert sind? Mit mir kann man gut auskommen, man muss sich nur an ein paar Regeln halten – aber damit haben Frauen ohnehin so ihre Probleme.“
Mabel schmunzelte, denn Victor meinte jedes Wort ernst. Er war eben ein Eigenbrötler. Zwar war er ein hervorragender Tierarzt, dem das Wohl seiner vierbeinigen Patienten über alles ging, wie sein privates Umfeld aussah, war ihm jedoch gleichgültig. Als Mabel seine Wohnung zum ersten Mal betreten hatte, war sie über das Chaos in den Räumen entsetzt gewesen.
Sie sah sich in dem blitzsauberen Behandlungszimmer um. Hier lag alles in Reih und Glied, kein einziger Fleck war auf dem metallenen Untersuchungstisch zu entdecken, und auch Victors Karteikarten waren akkurat sortiert. Diana Scott, die Sprechstundenhilfe, trug nicht unwesentlich zu dieser vorbildlichen Ordnung bei, aber auch Victor achtete in der Praxis auf Sauberkeit, was eine Grundvoraussetzung für eine gut geführte Tierarztpraxis war. Mabel wünschte sich, Victor wäre im Privatleben nur ein bisschen so ordentlich, wie er seine Praxis führte.
„Dann ist es also abgemacht – Sie geben mir nächste Woche frei?“, kam Mabel wieder auf ihr Anliegen zu sprechen.
„Nur, wenn Sie mir genau sagen, was Sie vorhaben und zu wem Sie wollen“, beharrte Victor. „Ich sehe Ihnen doch an, dass da wieder etwas im Busch ist. Stimmt’s oder habe ich recht?“
Mabel sah keinen Grund, die Wahrheit zu verschweigen. „Ich muss mich um einen Patienten kümmern.“ Da Victor sie perplex anstarrte, fügte sie schnell hinzu: „Lord Douglas Carter-Jones braucht eine Pflegerin, und mit meiner jahrelangen Erfahrung …“
„Etwa auf Allerby?“, schnitt ihr Victor das Wort ab. Dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich hätte es mir denken können. Sie können es nicht lassen und wittern wieder ein Verbrechen, nicht wahr? Mabel, ich gebe zu, Sie hatten mehrmals den richtigen Riecher, aber ich dachte, wir hätten über den Tod von Michelle Carter-Jones zur Genüge gesprochen. Dieses Mal handelt es sich eindeutig um Selbstmord. Ausnahmsweise gibt es für Sie nichts zu tun.“
„Selbst wenn Lady Michelle den Freitod gewählt hat, wäre es interessant zu erfahren, was die junge Frau derartig verzweifeln ließ, dass sie einen solchen Schritt tat.“ So leicht gab Mabel sich nicht geschlagen. „Es ist ein glücklicher Zufall, dass Captain Douglas jemanden braucht, der seine tägliche Pflege übernimmt. So kann ich in Allerby House ein und aus gehen, ohne Verdacht zu erregen. Die Hausangestellte ist übrigens sehr gesprächig. Ich bin sicher, sie wird mir so einiges zu erzählen haben …“
„Genug!“, unterbrach Victor sie und hob die Hand. „Ich erkenne, dass ich Ihnen den Urlaub wohl nicht verweigern kann, und noch weniger werde ich Sie von Ihrem aberwitzigen Plan abbringen können. Verschonen Sie mich
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