Macabros 005: Die Schreckensgöttin
Die Sonne schien. Die Glastüren
zum Wohnraum standen weit offen. Eine junge, braunhäutige Frau
hantierte im Innern des Hauses. Das war die junge Frau, die im Zirkus
beinahe von dem bengalischen Tiger angefallen worden wäre.
Mahay nahm die Hände von der Kugel, und die Szene löste
sich auf.
Der Mann aus Bhutan erhob sich. Er löschte die
Weihrauchstäbchen, packte die Kugel in einen kleinen schwarzen
Lederkoffer und verschloß ihn. Rani Mahay verließ mitsamt
dem Koffer seinen Wohnwagen. Auf dem Platz, wo die Wohnwagen standen,
herrschte um die Mittagsstunde wenig Betrieb.
Der Bhutaner steuerte auf den alten dunklen Mercedes zu, den
gestern ein Fahrer des »Indischen Zirkus« bedient hatte.
Jetzt fuhr Rani allein.
Es kam ihm darauf an, mit der jungen Brasilianerin zu
sprechen.
Auf irgendeine Weise war sein Lebensschicksal mit dem dieser Frau
und mit dem jenes Mannes verbunden, dessen Verschwinden aus dieser
Welt er beobachtet hatte. Alles, was in dem alten Haus im Londoner
Stadtteil Soho, in der Bourchier Street, passiert war, berührte
unmittelbar das Leben der jungen Brasilianerin und auch das von Rani
Mahay.
*
Als die Klingel anschlug, dachte Carminia Brado zuerst an
Björn.
Gleich halb eins. Vielleicht war er schon wieder
zurückgekommen.
Sie eilte zur Wohnungstür und öffnete. Vorn an der
Gartentür stand ein Riese von einem Mann.
Rani Mahay, der Koloß aus Bhutan!
Was wollte der hier?
Mißtrauisch ging Carminia auf ihn zu. »Mister
Mahay?« fragte sie erstaunt. »Wie komme ich zu der Ehre
Ihres Besuches?«
»In diesem Haus wohnt ein Mann mit blondem Haar«, sagte
Mahay. »Ich kenne seinen Namen nicht. Ich weiß nur, wie er
aussieht. Dieser Mann ist seit gestern in London. Vor einer halben
Stunde hatte er eine Begegnung dort, die für ihn schicksalhafte
Bedeutung haben kann.«
»Björn!« entfuhr es Carminia. »Aber
wieso… wissen Sie von ihm?«
»Durch die magische Kugel, Madame. Ich möchte Ihnen gern
helfen.«
Carminia verstand überhaupt nichts mehr. Viele
Erklärungen waren notwendig, aber die ließen sich nicht
zwischen Tür und Angel abtun. Die Brasilianerin forderte ihren
Besucher auf, in das Haus zu kommen.
Mahay war ein rätselhafter Mensch. Er wußte von Dingen,
die er eigentlich als Außenstehender nicht einmal ahnen
konnte.
Mahay holte ziemlich weit aus, schilderte Stationen seines Lebens,
sagte, daß er der Sohn eines Bhutaners und einer Leptscha-Frau
sei, die aus Nepal stammte. Er beschrieb sein Land, das ein
zerschnittenes Gebirgsland sei, in dem es tiefe Täler und wilde
Schluchten gäbe. Und dann sprach er von seinem Onkel, der in
einem abgelegenen Kloster im östlichen Himalaya als
buddhistisch-lamaistischer Mönch lebte. Von diesem Onkel hatte
er die magische Kristallkugel bekommen.
Er nahm sie aus dem Lederkoffer und stellte sie vorsichtig in die
Mitte des Tisches.
Das geheimnisvolle, nie verlöschende Glimmen wogte im Innern
der Kugel.
»Es ist ein sehr seltener Bergkristall«, erklärte
Rani Mahay. »Mein Onkel hat ihn geschliffen, bis er so rund und
so glatt war. Er ist von seltener Reinheit und Durchsichtigkeit. Die
Kugel war das Fenster zur Seele der Menschen. Mein Onkel führte
ein heiligmäßiges Leben, und eines Tages ist ihm Buddha
erschienen und hat ihm anvertraut, daß er in seiner Todesstunde
den Zauberkristall an mich weiterschenken soll. Der Kristall soll mir
Glück bringen. Ich würde durch den Besitz der Kugel in die
Lage versetzt, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Ich wußte
zu jeder Zeit, was mich erwartete. Fremde Gesichter tauchten auf: es
waren Menschen, die ich später kennenlernte, Menschen, deren
Schicksal irgendwie mit dem meinen verschmolzen war. In diesem
magischen Kristall habe ich auch Ihr Gesicht zum erstenmal
gesehen.«
Carminia Brado schüttelte den Kopf. »Es hört sich
so phantastisch an, wie ein orientalisches Märchen. Ich habe auf
Bildern schon solche Kristallkugeln gesehen. Aber ich nahm diese
Dinge nie ernst.«
»In ferner Zeit schon suchten die Menschen Rat durch die
magische Kugel«, erwiderte der Bhutaner. »In der
Vergangenheit gab es sehr viele solcher Kugeln, die von heiligen
Männern geschaffen und weitergereicht worden waren. Der Wunsch,
einen Blick in die Zukunft zu werfen, ist so alt wie die Menschheit
selbst. Nur wenige magische Kristalle sind wirklich echt. Viele sind
Nachbildungen, und es werden betrügerische Absichten damit
verfolgt. Dieser Kristall aber ist echt. Ich habe unsere Begegnung
darin
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