Macabros 006: Horror-Trip
ein
Mann, der sich der Mathematik verschrieben hatte, der sogar
Mathematik lehrte. Wo sich mathematisches Talent und magisches Wissen
paaren, kann das ein erstaunliches Ergebnis zeitigen.« Seine
Stimme war etwas leiser geworden. Er riß und zerrte an seinen
Fesseln und verstärkte seine Anstrengungen, um freizukommen.
»Tun auch Sie alles, um sich der Fesseln zu entledigen, Mister
Turnborgh«, sagte er, während er Atem schöpfte.
»Das ist das einzige, was wir zunächst tun können. Wer
es zuerst schafft, ist dem anderen behilflich. Zwischendurch werde
ich Ihnen einiges aus meinem abenteuerlichen Leben erzählen und
werde Ihnen erklären, unter welchen Mühen ich diese kleine
Umwandlungsstation erbaut habe, wieviel Verirrten und Entschwundenen
ich die Rückkehr in unsere Welt dadurch ermöglicht habe und
welche erstaunlichen und nicht ganz ungefährlichen Dinge es hier
zu entdecken gibt. Wenn Orgep uns so lange allein läßt und
wenn er bis dahin nicht auf Björn Hellmark stößt, der
auf dem Weg nach hier ist, dann gibt es vielleicht doch noch eine
Chance. Das verkehrteste wäre auf jeden Fall, die Hände in
den Schoß zu legen.«
Aber wozu, dachte Turnborgh. Wozu das alles? Wenn es doch keinen
Ausweg mehr gibt!
*
Seine Freunde hätten ihn kaum noch erkannt, und Carminia
Brado, die glutäugige Brasilianerin, wäre erschrocken,
hätte sie Björn Hellmark jetzt gesehen.
Der Deutsche war in die vierte Dimension geraten. Seine Begegnung
mit der Schreckensgöttin hatte sein Dasein mehr verändert
als alle merkwürdigen und geheimnisvollen Vorgänge um seine
Person zuvor.
In London war es passiert. Dort war er in die Falle gelockt
worden. Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte er die Grenze zwischen
den Dimensionen übertreten.
Doch im Gegensatz zum ersten Mal schien es zunächst keine
Aussicht auf eine Rückkehr zu geben. Als das Reich der
Schreckensgöttin zusammenbrach, die sowohl in der dritten als
auch in der vierten Dimension als Person existiert hatte, war er
ziellos durch die unbekannte Landschaft geirrt. Die vierte Dimension
existierte in einer Ebene, die in der dreidimensionalen Welt
integriert war. Ganz deutlich hatte dies die Tatsache bewiesen,
daß er sich eine Zeitlang in den Straßen Londons bewegen
konnte. Er nahm die dritte Dimension wahr, konnte hören und
sehen, ohne selbst gehört oder gesehen zu werden. Auf diese
Weise war er seiner geliebten Carminia zum letzten Mal begegnet.
Dies hatte ihm gezeigt, daß die Welt der vierten Dimension
vielschichtig gestaltet war. Es gab – so nannte er es jedenfalls
– Löcher, durch die man einen Blick in die reale Welt, aus
der er gekommen war, werfen konnte. Man befand sich bei jedem
Atemzug, bei jedem Schritt, den man tat, an irgendeiner Stelle auf
der Welt, auch ohne zu wissen, wo dies war. Fremde Landschaften,
geheimnisvolle undurchdringliche Wälder mit geheimnisvollen
Blüten und unbekannten, fremdartigen Bäumen und Pflanzen
lagen vor ihm, dann wieder trockenes, rissiges Land, das aussah, als
wäre ein glühender Sturm darüber hinweggebraust und
hätte alles verbrannt.
Jegliches Zeit- und Raumgefühl war ihm verlorengegangen.
Es war genauso als ob er träumte, wo man ja auch kein
Gefühl mehr für den Raum und die Zeit besaß.
Manchmal glaubte er, jeden Augenblick aufzuwachen und zu erkennen,
daß er im Bett in seinem Genfer Bungalow liege. Aber diese
Hoffnung erfüllte sich nicht.
Manchmal überlegte er, wie lange er schon in dieser
geheimnisvollen, jenseitigen Daseinsebene existierte – und er
fand keine Antwort darauf. Die Armbanduhr, die er bei sich trug,
funktionierte nicht mehr wie gewohnt, seit er in jener Wohnung in der
Londoner Innenstadt den magischen Spiegel passierte.
Wer durch ein schicksalhaftes Ereignis die Grenze zwischen den
Dimensionen passierte, war hilflos auf sich selbst angewiesen. Er
lief ziellos durch eine fremde Welt, und niemand kümmerte sich
um ihn.
Hellmark unterlag einem Lernprozeß. Der junge Deutsche war
überzeugt davon, daß es mehr als eine Möglichkeit
gab, diese jenseitige Welt wieder zu verlassen. Aber die
Schwierigkeit lag darin, eine Stelle zu finden, wo ein Passieren
dieser Grenze möglich war, wo ein magischer Spiegel in die
Wohnung eines Menschen führte, der Kontakt zur Geisterwelt
hatte.
So beobachtete er alles, was um ihn herum vorging. Durch seine
Beobachtungen hatte er sich bisher auch am Leben gehalten. Er sah,
welche Pflanzen und Früchte von den Bewohnern gesammelt und
gegessen
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