Macabros 016: Geisterheere aus dem Jenseits
Stufen hinab, die zum Podest
führten.
Den letzten Teil der dramatischen Rettung hatte Daniele Lerue noch
mitbekommen. Zitternd am ganzen Körper und mit Tränen in
den Augen schloß sie das Mädchen in die Arme.
»Vielen Dank, Monsieur«, schluchzte sie kaum
hörbar, und Macabros streichelte den blonden Schopf der kleinen
Susette. »Wenn Sie nicht gewesen wären, ich… es
wäre nicht auszudenken, was dann…«
»Schon gut, Madame. Es ist nicht der Rede wert. Jeder andere
hätte an meiner Stelle genauso gehandelt, wenn er die
Gelegenheit dazu gehabt hätte.«
Daniele Lerue wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.
»Susette, Susette«, wisperte sie. »Wie konntest du das
nur tun? Warum hast du dich losgerissen? Das darfst du nie wieder
tun, verstehst du?« Ihre tränenverschleierten Augen
richteten sich auf den Retter. »Sie müssen mir Ihren Namen
nennen, Ihre Adresse. Ich möchte mich bei Ihnen
bedanken.«
»Das ist nicht nötig, Madame. Ihre Freude ist mir Dank
genug.«
Macabros bahnte eine Gasse. Einige Rummelplatzbesucher, die
merkten, daß hier etwas Besonderes vorgefallen war, wichen von
selbst zurück und machten Platz.
Susette war ganz verstört. Macabros fiel der Zustand des
Kindes auf.
Mit offenen Augen wäre es in die tödliche Gefahr
gelaufen!
Aber das Kind machte nicht den Eindruck, als ob man ständig
hinter ihm herlaufen und es ermahnen mußte.
Es konnte keine Antwort darauf geben, warum es das Podest
erklommen und wie ein Schlafwandler auf die vorbeirasenden Wagen
zugelaufen war.
Sie erreichten gemeinsam das Riesenrad, das im Augenblick stoppte.
Doch in der gleichen Sekunde ereignete sich noch etwas.
Fünfzig Meter entfernt, hinter einem Zelt in einem
düsteren Winkel, starb ein Mensch…
*
Die Schaukeln leerten sich. Menschen strebten die Stufen herab.
Auf der anderen Seite warteten schon wieder neue Passagiere, um die
freien Plätze einzunehmen.
Gaston Lerue eilte mit Pierre auf den Armen zu seiner verweinten
Frau.
»Wie konnte das nur geschehen?« fragte er mit zitternder
Stimme, und man sah ihm an, daß ihm noch der Schreck in allen
Gliedern steckte.
»Ich weiß nicht, Gaston. Mit einem Mal war sie weg. Ich
bin schuld daran, ich weiß…«
»Nein, du hast keine Schuld. Lassen wir das! Wo ist der Mann,
der sie zurückgerissen hat? Ich möchte mich bei ihm
bedanken. Ich habe von hier aus alles beobachtet. Es waren bisher die
schrecklichsten Sekunden meines Lebens. Ich werde sie nie
vergessen.« Der Ingenieur blickte sich um.
»Da ist Susettes Retter, Gaston, ich…« Sich
unterbrechend drehte Daniele Lerue den Kopf. »Hallo,
Monsieur?« fragte sie, sich in der Runde umblickend. »Er
hat doch eben noch neben mir gestanden. Ich verstehe das
nicht.«
Aber der Retter war verschwunden.
*
Daniele Lerue blickte zufällig nach vorn, als sie den Ausgang
verließen, um die nachfolgenden Passagiere des Riesenrades an
sich vorbeizulassen.
Sie stutzte. »Aber… das gibt es doch nicht…«,
stotterte sie.
Gaston Lerue folgte dem Blick seiner Frau.
»Das ist der Mann, der… der eben aus der Schaukel
steigt, Gaston!«
Der Mann, den sie meinte, hob mit einem einzigen Ruck den Jungen
aus der Gondel, als wäre er leicht wie eine Feder.
»Das ist er!«
»Unmöglich, Daniele! Du siehst doch selbst, daß er
eben erst seine Fahrt beendet hat – genau wie ich.«
»Ja, das sehe ich«, murmelte sie und war kreidebleich.
Sah sie schon Dinge, die nicht sein konnten? Hatte der Schreck sie
derart mitgenommen, daß ihr Erinnerungsvermögen
beeinträchtigt war?
Sie hatte sich den Fremden genau gemerkt.
Die Größe stimmte, sein leichter, federnder Gang
ließ etwas von der Kraft ahnen, die in diesem sportlich
durchtrainierten Körper steckte. Die Frisur paßte, die
Haarfarbe war ein natürliches Blond. Konnte sie sich so
getäuscht haben?
Sie brachte es nicht fertig, den Blick zu wenden.
Wie verkrampft hielt sie Susette auf den Armen, als wolle sie sie
nie wieder loslassen.
Der Fremde, in dessen Begleitung sich ein etwa
vierzehnjähriger Junge befand, kam genau auf sie zu.
»Entschuldigen Sie, Monsieur…«, sprach Daniele
Lerue Björn Hellmark an, bevor ihr Mann es verhindern
konnte.
»Madame?« Björn lächelte.
Diese Augen, dieser Mund, dieses markante, männliche Gesicht.
Kein Alltagsgesicht.
Die Stimme!
Ja, das war der Mann, der Susette vor dem sicheren Tod gerettet
hatte!
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche…«,
wenn sie wüßte, wie sie diese
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