Macabros 016: Geisterheere aus dem Jenseits
die
Überraschungen, die er mit Pepe erlebte, nicht so schnell
gewöhnen konnte.
»Ich kann nichts dafür! Das Riesenrad bewegt sich von
ganz allein. Ich werde mich von jetzt an mit ein bißchen
Zurückhaltung freuen, Björn. Da kann weniger
passieren.«
»Prima, Amigo«, entgegnete Hellmark. »Dann brauche
ich also keine Angst zu haben, daß sich während der Fahrt
die Balken biegen und du einen Knoten in die erstbeste Eisenstange
machst.«
Pepe lachte über diesen Vergleich, und seine weißen
Zähne blitzten.
Hellmark aber lauschte schon wieder auf ein verdächtiges
Geräusch. Doch nirgends knisterte es, es sprühten keine
Funken, und auch der Nachbar war zufrieden, weil seine Uhr noch
ging.
So langsam lernte Pepe mit seinen Kräften haushalten.
*
Das Riesenrad war groß, und man hatte von oben einen Blick
über das zuckende Lichtermeer, über die Menschenmassen,
über die Dächer der Apartmenthäuser und Hotels. In der
Ferne sah man zahllose dunkle Punkte. Dort hinten lief die
Autostraße direkt am Mittelmeer entlang. Viele Ausflügler
kehrten aus der Camargue, aus Arles oder von Aigues Mortes
zurück.
Aus der Höhe wirkten die mächtigen Gebäude, die La
Grande Motte weltberühmt gemacht hatten, weil namhafte
Architekten hier ihre Vorstellungen verwirklichen konnten, wie
Schachteln. Kein Gebäude glich dem anderen. Nach einem
großangelegten Vernichtungsfeldzug gegen Mücken und
Schnaken, die hier in diesem sumpfigen Gebiet die besten
Lebensbedingungen fanden, hatte man La Grande Motte aus dem Boden
gestampft. Eine künstliche Stadt, in der nur während der
Sommermonate etwas los war.
Tausende von Touristen, hauptsächlich Franzosen, einige
Deutsche, Engländer und Schweizer, bevölkerten die Stadt.
Im Jachthafen schaukelten kleine und große Fahrzeuge. Auch
Björn Hellmarks »Seejungfrau II« befand sich darunter.
Die »Seejungfrau II«, Nachfolgerin der »Seejungfrau
I«, die während eines Unwetters und beim Zusammenstoß
mit Kiuna Macgullyghosh arg mitgenommen und wieder instand gesetzt
und danach von Hellmark verkauft wurde, war ein Sonnenschiff mit
großem Cockpit und einer Flying Bridge. Die »Seejungfrau
II« war härtesten Beanspruchungen gewachsen, und auf ihr
konnten bequem vierhundert Seemeilen zurückgelegt werden, so
lange reichte der Treibstoffvorrat, den sie aufnehmen konnte.
Björn Hellmark war vernarrt in schnelle Autos, Flugzeuge und
Schiffe. Seine Herkunft ermöglichte es ihm, sich diese
Wünsche zu erfüllen. Von Genua aus war er mit der
»Seejungfrau II« aufgebrochen, um hier am Mittelmeer in der
Nähe von Agde gemeinsam mit Pepe. Rani Mahay und Carminia Brado
ein paar Tage Urlaub zu verbringen.
»Mann, ist das hoch!« plärrte Pepe beugte sich ein
wenig nach außen über den Rand der Schaukel, um mehr zu
sehen. Björn packte ihn am Ärmel und hielt ihn fest.
»Paß auf«, sagte er. »Es ist nicht das
Größte, aber es reicht, um aus dieser Höhe das Genick
zu brechen.«
»Es gibt noch größere?« staunte der
Junge.
»Claro. In Barcelona zum Beispiel, auf dem Montjuich. Da
steht der größte Vergnügungspark Europas mit einem
der imposantesten Riesenräder. Und das wird nie abgebaut. Es
steht immer dort.«
»Mann! Warum sind wir da nicht hingefahren?«
»Kommt vielleicht noch. Oder im Prater in Wien, da steht ein
noch größeres.«
»Fahren wir da auch mal hin? Ich möchte alle
Riesenräder der Welt kennenlernen.«
Björn lachte.
Es wurde eine vergnügliche Fahrt, und sie lösten noch
mal nach. Björn und Pepe plauderten und betrachteten sich die
Welt um La Grande Motte aus der Vogelperspektive.
Von hier oben konnte man alles sehen. Nichts entging einem.
Nur dreißig Meter weiter bahnte sich zum gleichen Zeitpunkt
ein Drama an.
In dem allgemeinen Gewirr von Menschenleibern hatte sich ein
kleines Mädchen von der Hand der Mutter gelöst und lief
– eine Stange mit Zuckerwatte in der Linken – auf die Berg-
und Talbahn zu, die mit schnellem Tempo ihre Runden zog.
Musik schrillte aus den Lautsprechern, und die Stimmung auf der
Bahn war fabelhaft.
Das Mädchen erreichte das Bretterpodest und stieg empor.
Was aussah wie ein Zufall, was die Zeitungen später als einen
bedauerlichen Vorgang bezeichneten, war in Wirklichkeit bewußt
gesteuert.
Die bösen Jenseitsmächte schliefen nicht. Sie lagen auf
der Lauer. Es ging etwas vor, und die Menschen merkten es nicht.
Viele Unfälle waren keine Unfälle, denn böse
Kräfte hatten eingewirkt.
Was Susette Lerue
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