Macabros 023: Gefangen im Totenmaar
den linken Fuß verstaucht
und war froh, so glimpflich davongekommen zu sein. Er hielt sich an
dem dicken, roten Tau, das durch blanke Messinghülsen an der
Wand entlanglief, fest.
Zeit und Raum stimmten hier nicht mehr, die irdischen Gesetze
waren aufgelöst.
Der Boden, über den er schritt, ging wie eine schiefe Ebene
nach oben. Das kam durch die Schräglage des Schiffes. Die
Menschen, die wie Wachsfiguren standen, aber waren dennoch nicht ins
Fallen gekommen. Sie standen da wie angewurzelt. Ihre Gesichter
zeigten Freude, Überraschung und Anteilnahme. Der Moment eines
Lebens war festgehalten worden wie auf einer Fotografie.
Sie hatten nichts von dem Grauen bemerkt, das blitzartig über
sie gekommen war.
Der Boden unter seinen Füßen war glatt, und er
mußte höllisch aufpassen, nicht darauf ins Rutschen zu
kommen.
Er wanderte als einziger Lebender zwischen den Gestalten, für
die die Zeit stehengeblieben war. Dabei wußte er: diese
Menschen lebten auch. Sie konnten ihn wahrnehmen. Der Glanz in ihren
Augen war nicht erloschen, und ihre Gedanken funktionierten mit der
Präzision eines Uhrwerks. Er sah deutliches Erschrecken in den
Blicken jener Menschen, die er berührte um festzustellen, wie
sich ihre Haut anfühlte.
Er blickte sich in der Runde um, wagte es, die Maske langsam und
vorsichtig vom Gesicht zu streifen, um das Aussehen des
häßlichen Totenkopfes abzulegen. War es ein Risiko?
Würde die Kraft der Dämonen, die sich in diesem zeitlosen
Netz manifestiert hatte, erneut auf ihn einwirken und ihn erstarren
lassen zwischen all den lächelnden Gestalten?
Als er die Maske zur Hälfte angehoben hatte und darunter sein
bronzefarbenes, vertrautes Gesicht zum Vorschein kam, spürte er
sofort die bleierne Schwere, die von seinem Körper Besitz
ergreifen wollte.
Es schien, als würde die Schwerkraft plötzlich zunehmen,
und jede Bewegung wurde zur Qual. Das Atmen fiel ihm schwer, seine
Brust wurde unter ungeheurem Druck zusammengepreßt. Das, was
sich beim ersten Mal blitzartig ereignete, geschah nun in Etappen. Er
mußte es rückgängig machen, sofern ihm das noch
möglich war!
Seine Hände krallten sich in die Maske und zogen sie nach
unten, bis sie vollends sein Gesicht wieder bedeckte.
Im gleichen Augenblick fühlte er sich frei und wie von einer
Zentnerlast befreit.
»Es tut mir leid«, murmelte er, sich in der Runde der
Erstarrten umsehend. »Ich hätte euch den Anblick gern
erspart. Aber ihr müßt mich ertragen. Es wird euch nichts
geschehen. Ich hoffe, euch helfen zu können. Wie, das weiß
ich selbst noch nicht.«
Das Schiff – so schätzte der Koloß aus Bhutan
– war etwa vierzig Jahre alt. Rani ging dabei von der Kleidung
und den Haarfrisuren aus, welche die hier Festgehaltenen trugen. Wann
und wie war es in diese Lage geraten? Gab es einen frühzeitigen
Anhaltspunkt dafür? War jemand an Bord gewesen, der sich mit
Magie und Schwarzer Kunst abgab und die Besatzung und die Passagiere
dabei ins Unglück stürzte? Bewußt oder
unbewußt?
Er verwarf diese Theorie ebenso schnell wieder, wie sie ihm
gekommen war.
Es gab noch andere, viel älter Dinge als dieses Schiff namens
»Tina Mualono«.
Er stand an einem Bullauge und starrte nach draußen. Es war
letzt ein ganz anderer Blickwinkel.
Unten links sah er einen uralten Ballon mit einem verzierten Korb.
Über den Korb gebeugt ein Mensch, der sich anschickte, ein
altmodisches Fernrohr ans Auge zu drücken. Weiter unten ein
Wikingerschiff, vollbesetzt mit Kriegern und Ruderern. Vorn am Bug,
hinter der drachenköpfigen Galionsfigur ein kraftvoller Mann,
der in eine ungewisse Ferne spähte.
Zeugen und Zeichen aus allen Zeiträumen der Erde. Vergangene
Äonen waren hier konserviert ebenso wie die nahe Gegenwart.
Zu allen Zeiten schon hatten Versuche mit dem Zeitnetz
stattgefunden. Waren die Unglücklichen zufällig durch den
Spalt gerutscht, der die Universen geöffnet hatte oder war es
schicksalhafte Bestimmung gewesen, hatte man sie auserwählt
– als eine Art Pioniere, um einen Versuch allererster
Größe durchzuführen?
Je mehr Rani Mahay über diese Dinge nachdachte, desto klarer
begann er zu sehen.
Auch Björn mußte hier sein. Aber wo?
Der Inder stieg langsam die schmalen Stufen empor, bahnte sich
einen Weg durch die zeitlose, schweigsame Welt und kam sich vor wie
eine Spinne, die überall zwischen den Gefangenen und
Gegenständen herumkrabbelte, während die Opfer in Starre
eingeschlossen waren.
Mahay suchte die Kajüte des
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