Macabros 023: Gefangen im Totenmaar
Seele
die sterbliche Hülle verließen und sie in das Vergessen
des unendlichen Stromes der Zeiten und Räume einging.
*
Die schmale Straße führte kerzengerade auf einen
fernen, einsam stehenden Tempel zu.
Zum Tor der Weisheit mußte er. Es kam ihm vor, als sei eine
Ewigkeit vergangen, ehe er den Säulengang erreichte, der in das
geheimnisvolle Dunkel führte.
Das Innere war von einem Prunk und einer Herrlichkeit, daß
menschlicher Geist in Staunen verharrte. Doch Hellmark hatte in
diesen Sekunden keine Zeit und keinen Sinn, sich um Details zu
kümmern. Er strebte zum Tor, das sich über dem Altar erhob.
Breite, mattschimmernde Stufen aus kostbarem Stein führten
direkt nach oben. Kaphoon nahm immer zwei auf einmal, jagte durch das
Tor und glaubte im gleichen Augenblick einen gewaltigen Stoß in
den Rücken zu erhalten.
Aus der violetten Finsternis wurde Helligkeit. Orangefarben und
durchdringend war der Himmel, ebenso der Untergrund.
Unmittelbar neben ihm ragte ein Stab schräg in die Höhe.
Oben drauf war ein bläulicher Schädel. Der Kopf eines
Daiss.
Der aus der unterirdischen, verborgenen Stadt Atamia
Zurückgekehrte war mit einem kraftvollen Sprung sofort auf den
Beinen.
Er war – wieder Hellmark.
Verdrängt war die Episode in Atamia, verdrängt die
Begegnung mit der unendlich schönen Bailea, zu der brennende
Leidenschaft ihn noch mal geführt hatte.
Klar und deutlich sah er seine Aufgabe vor sich und zögerte
keine Sekunde.
Er wußte, daß er so handeln mußte, wie er
handelte – und nicht anders.
Kraftvoll führte er den ersten Schwertschlag. Mit einem
einzigen Hieb durchschlug er das harte Holz. Der Pfahl kippte
knirschend um und schlug in den Sand, der mehlfein aufwirbelte und
Hellmark sekundenlang die Sicht raubte.
Mit der Schwertspitze hob er den bläulichen Schädel ab
und ließ ihn dann wieder in den Sand rollen.
Der Totenkopf verschwand, und wie im Zeitlupentempo ereignete sich
die Rückbildung. Die Augenhöhlen füllten sich,
dünne Hautschichten entstanden, lagen wie Blätterteig dicht
übereinander, menschenähnliche Züge, Nase, Mund und
Ohren entstanden. Ein Körper formte sich aus dem Nichts!
Der Tote war zurückgekehrt und richtete sich langsam
auf…
*
Es lief besser als erwartet.
Rani Mahays Gesicht glänzte vor Schweiß.
Der Koloß aus Bhutan bewies, daß er mehr konnte, als
wilde Katzen zähmen. Es war ihm gelungen, den Willen Marina
Sermaths ganz unter seine Kontrolle zu bringen.
Ein Großteil des Gelingens aber hing auch von ihrer Mithilfe
ab. Sie erwies sich als ein feinsinniger, aufnahmebereiter Mensch,
der erkannt hatte, daß man nicht aufgeben durfte und auch in
scheinbar aussichtloser Lage noch etwas zu tun war, wenn man nur
wußte, wie man es anfing.
Die Hand der jungen Frau faßte in seine Hosentasche und
hielt zwei Sekunden später die Maske in der Hand.
Mahays Schweißausbruch verstärkte sich.
»Festhalten! Sie dürfen auf keinen Fall loslassen!«
Von nichts anderem sonst waren seine Gedanken erfüllt. Jetzt
nicht aufgeben! Er selbst war noch zur Unbeweglichkeit verdammt, aber
er hatte das fast unvorstellbare Kunststück fertiggebracht,
einen Menschen in seiner unmittelbaren Nähe aus dieser
künstlichen und gefährlichen ewigen Starre zu
reißen.
»Ihr Arm reicht weit genug!« dachte er intensiv.
»Stülpen Sie mir die Maske über den Kopf – aber
vorsichtig – ganz vorsichtig…!«
Jetzt kam die Angst und die Ungewißheit, ob er auch alles
richtig gemacht hatte.
Hing seine Situation wirklich mit der Aktivität
dämonischer Mächte zusammen – und vieles sprach
dafür –, dann hatte er eine ernsthafte Chance, hier etwas
zu verändern.
Marina Sermaths Gesicht spiegelte nichts von der Anstrengung
wider, unter der sie stand. Sie befolgte wie unter Hypnose den Willen
eines anderen und verstärkte durch ihr eigenes Wollen Mahays
Absicht.
Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, ehe die Maske sich über
seinen Schädel spannte. Im gleichen Augenblick veränderte
sich seine Kopfhaut. Der graubraune Stoff, der Ähnlichkeit mit
einem grobgewebten Damenstrumpf hatte, lag wie eine zweite Haut auf
seiner Glatze. Die war plötzlich nicht mehr bronzefarben –
sondern kalkweiß. Das Gewebe, aus der Haut eines Dämons
gearbeitet, der zum Abtrünnigen geworden war, wirkte
plötzlich lebendig und ließ sein normales Aussehen
schwinden.
»Sie dürfen nicht erschrecken!« dachte Mahay.
»Egal, was auch immer Sie sehen, lassen Sie sich davon
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